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Naher Osten Im Westjordanland übernehmen Frauen das Zepter bei der Hamas

Die radikal-islamische Hamas ist nicht nur im Gazastreifen präsent, sondern auch im Westjordanland. Dort übernehmen zunehmend Frauen das Zepter, weil die meisten Männer, die sich zur Hamas bekennen, in israelischen Gefängnissen sitzen. Die ehemalige SRF-Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner hat eine Hamas-Vertreterin getroffen und ordnet die heikle Begegnung ein.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Susanne Brunner und Informationen zu ihrer Person.

Wieso führen die Frauen im Westjordanland die Hamas?

Viele Männer sitzen im Gefängnis – erst recht, seit der Verhaftungswelle Israels im Westjordanland seit dem 7. Oktober. Deshalb übernehmen die Frauen das Kommando. Einige treten als Vertreterinnen des politischen Arms der Hamas auf, leben allerdings gefährlich, weil auch sie jederzeit verhaftet oder getötet werden könnten.

Sie konnten eine palästinensische Englischlehrerin treffen, die sich öffentlich zur Hamas bekennt. Wie konnten Sie den Kontakt zu ihr herstellen?

Fadia Barghouti war 2021 offiziell Kandidatin fürs palästinensische Parlament, also eine öffentliche Person. Ihren Kontakt zu finden, war nicht sehr schwierig. Viel schwieriger war es, das Treffen überhaupt zu organisieren, weil die Bewegungsfreiheit im besetzten Westjordanland seit dem 7. Oktober stark eingeschränkt ist.

Hamas-Vertreterin Fadia Barghouti im Gespräch.
Legende: Fadia Barghouti im Gespräch SRF

Werden nur Hamas-Terroristen verhaftet?

Laut Angaben von Menschenrechtsorganisationen verhaftete Israel seit dem 7. Oktober mehr als 4000 Palästinenserinnen und Palästinenser und verdoppelte damit die Zahl palästinensischer Gefängnisinsassen etwa. Auch Fadia Barghoutis Sohn wurde erst im Oktober 2023 verhaftet. Weder dieser noch ihr Mann gehörten zur bewaffneten Hamas-Fraktion, beteuert Fadia Barghouti. Das ist glaubhaft, denn: wie die meisten Verhafteten, sind sie nicht formell angeklagt worden.

Bundesrat will Hamas per Bundesgesetz verbieten

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Nach dem Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober hat der Bundesrat das EJPD und das VBS beauftragt, bis Ende Februar 2024 einen Gesetzesentwurf zum Verbot der Hamas auszuarbeiten. Alle Bundesratsparteien sprechen sich dafür aus.

Trotzdem lasse sich der Bundesrat Zeit mit dem Hamas-Verbot, schätzt Bundeshausredaktor Dominik Meier ein. «Den Plan für ein beschleunigtes Verfahren hat er fallen lassen. Nun soll die normale, gemächliche Prozedur reichen – heisst: Bis zu einem Hamas-Verbot dauert es mindestens ein Jahr. Hintergrund sind grundsätzliche Bedenken im Bundesratszimmer. Die Schweiz, so die Befürchtung, könnte unter Druck geraten, nach der Hamas auch die PKK und andere Gruppierungen zu verbieten.»

Israel kennt die «Administrativhaft» und wird dafür oft von Menschenrechtsorganisationen kritisiert, weil Unbescholtene monate- oder gar jahrelang ohne Anklage in Haft verbringen.

Die Hamas-Aktivistin sagt in Ihrer Reportage, es sei besser, einmal zu sterben, als über Jahre langsam dahinzusiechen. Wie repräsentativ ist diese Meinung für das palästinensische Volk?

Gesagt hat sie das auf die Frage, ob die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel nicht auch mitschuldig sei am Tod Tausender von Menschen im Gazastreifen. Denn mit einer heftigen Reaktion musste die Hamas doch rechnen.

Die Hamas-Aktivistin vertritt die Haltung, Israel sei eine Besatzungsmacht, welche das Leben der palästinensischen Bevölkerung seit Jahrzehnten immer unerträglicher mache, sowie die Überzeugung, dass Israel die palästinensische Bevölkerung vertreiben oder umbringen wolle. So wie diese Frau denken viele Palästinenserinnen und Palästinenser – das erklärt auch die grundsätzliche Zustimmung zur Hamas.

Eindrücke aus dem Westjordanland

Der Gazakrieg hat diese Haltung im ganzen Nahen Osten bestärkt: Der brutale Terrorakt der Hamas am 7. Oktober an den Israelis wird ausgeblendet. Auf meine Nachfrage will Barghouti den Hamas-Angriff nicht als eine Art kollektives palästinensisches Selbstmordattentat verstanden wissen. Sie sei an jenem Tag genau so überrascht und schockiert gewesen wie alle anderen auch. Aber immerhin rede jetzt die ganze Welt über die Palästinenser, sagt sie. Propalästinensische Proteste, zum Beispiel in den USA, erfüllen die Hamas-Frau gar mit Genugtuung.

In ihrem Fokus stehen das jahrzehntelange Leiden der palästinensischen Bevölkerung und das Fehlen einer Lösung des Nahostkonflikts. Das ist für Israel gefährlich, weil ein Krieg gegen die Hamas nicht in Gaza entschieden wird, sondern in den Köpfen und Herzen der Menschen im Nahen Osten. 

Wie heikel war es für Sie als Journalistin, eine Hamas-Vertreterin zu treffen?

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel ist jeder Kontakt mit der Hamas sehr heikel, weil er mir als Kontakt zu einer Terrororganisation ausgelegt werden könnte – selbst wenn diese Hamas-Vertreterin von den israelischen Behörden nicht mit Gewalt in Verbindung gebracht wird. Aber auch journalistisch: Soll man mit der Hamas reden, oder nicht? Diese Frage musste ich mir stellen und ich habe sie mit Ja beantwortet – weil diese Frau für eine Haltung steht, die weder Israel noch die Welt ignorieren können.

Rendez-vous, 03.01.2024, 12:30 Uhr ; 

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