Israel ist empört über die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs ICC und legt Rekurs ein. Dabei hätte Israel die Haftbefehle verhindern können, sagen Menschenrechtsanwältinnen und -anwälte. Fragen und Antworten von Susanne Brunner, Leiterin der SRF-Auslandredaktion.
Ist Netanjahu für den ICC ein Kriegsverbrecher?
Die ICC-Richter und Richterinnen haben einstimmig geurteilt, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu und sein kürzlich entlassener Verteidigungsminister Joav Gallant wegen ihrer Kriegsführung strafrechtlich belangt werden müssen: Einsatz von Hunger als Kriegswaffe im Gazastreifen und mutmassliche Schuld an anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Was sagt der ICC zur Hamas?
Der ICC-Chefankläger beantragte auch Haftbefehle für die Hamas-Führer Yahya Sinwar, Ismail Hanniyeh und Mohammed Deif, deren Organisation Israel am 7. Oktober 2023 brutal angegriffen hatte. Israel tötete Sinwar und Hanniyeh jedoch und behauptet, auch Deif sei tot. Dafür gibt es keine Bestätigung. Deshalb stellte der ICC einen Haftbefehl gegen Deif aus: wegen Mordes, Vergewaltigung, Folter und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Was hat Israel getan?
Israels Oberstaatsanwältin läutete die Alarmglocken: Man müsse sofort handeln. Die israelische Justiz müsse die Vorwürfe untersuchen, Israel hungere die Bevölkerung im Gazastreifen aus. Ansonsten, so die Oberstaatsanwältin sinngemäss, sei die Regierung selber schuld, wenn es Haftbefehle aus Den Haag gebe. Vor einem halben Jahr hatte der ICC-Chefankläger Haftbefehle gefordert.
Hat Israel eine Untersuchung der Vorwürfe eingeleitet?
Zuerst müsse Israel untersuchen, warum die Hamas am 7. Oktober 2023 ungehindert 1200 Menschen massakrieren konnte, sagt Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in der Schweiz. Gegen eine solche Untersuchung stellt sich die Regierung jedoch bis heute. Die Botschafterin sagt, das Höchste Gericht befasse sich mit einer Klage zivilgesellschaftlicher Organisationen, welche Netanjahu und Gallant die Aushungerung der Gaza-Bevölkerung vorwerfen. Der ICC gehe jedoch nicht darauf ein und behandle Israel, als ob das Land kein funktionierendes Justizsystem habe. Die Vorwürfe gegen Israel hätten nichts mit der Realität zu tun.
Während Jahrzehnten genoss das israelische Rechtssystem den Ruf, professionell und unabhängig zu sein. Dieser Ruf ist jetzt total zertrümmert.
Hat Israel eine Chance verpasst, die Haftbefehle zu verhindern?
Ja, sagt der bekannte israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard. Israel habe es bis jetzt unterlassen, Vorwürfen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzugehen. Die einzige Art von Untersuchungen, die eingeleitet wurden, seien nicht strafrechtlicher Art. Vielmehr seien es Einzelfälle, bei denen Soldaten im Verdacht stünden, gegen Befehle verstossen zu haben.
Hat der ICC Israel keine Chance gegeben?
Ein halbes Jahr hat der Internationale Strafgerichtshof vom Strafantrag bis zu seinem Urteil gewartet – vergleichsweise lange. Es stimmt, dass sich Israels Höchstes Gericht mit einer Petition von Menschenrechtsorganisationen befasst. Eine strafrechtliche Klage ist das nicht, und deshalb als Beweis, dass Israel seine Kriegsführung selber untersuche, nicht geeignet. Der ICC kündigte an, die Haftbefehle zurückzuziehen, wenn Israels Justiz die strafrechtlichen Vorwürfe selber untersuche.
Mitarbeit: Anna Trechsel