Die Gewalttaten im Westjordanland mehren sich: Die Zahl der Überfälle von radikalen jüdischen Siedlern auf Palästinenser steigt dramatisch, wie das UNO-Menschenrechtsbüro meldet. Der Autor und Journalist Hanno Hauenstein hat das Westjordanland besucht und schätzt die Lage ein.
SRF: Wie nehmen Sie die Situation im Westjordanland wahr?
Hanno Hauenstein: Wenn man sich das Westjordanland heute anguckt, sieht man einen Ort, der wirklich massiv unter Druck steht. Man kann das an Checkpoints, an Razzien, an Erschiessungen und der wachsenden Präsenz des Militärs und der israelischen Siedler erkennen, die mit zunehmender Selbstsicherheit auftreten. All das hat sich in den letzten zwei Jahren massiv verschärft.
Konkret werden Ernten palästinensischer Communitys zerstört, auch Grundwasserleitungen. Es gibt Brandanschläge auf Autos, auf Häuser, auf Tiere. Alles sind gezielte Versuche der Einschüchterung. Das israelische Militär greift entweder gar nicht ein oder es schützt die Angreifer teilweise sogar aktiv.
Wie lässt sich das erklären?
In Israel haben wir eine Regierung, in der diverse Minister selbst Siedler sind. Sie sind offen rechtsextrem und drängen auf die Zwangsvertreibung von palästinensischen Gemeinden. Im Grunde genommen sehen wir, wie eine Annexionspolitik, die sich seit Jahrzehnten abzeichnet, durch diese hochrangigen Minister beschleunigt wird.
Wie leben die Palästinenserinnen und Palästinenser in diesem gefährlichen Umfeld?
Das lässt sich schwer pauschalisieren. Das allgemeine Gefühl ist eine Mischung aus einer tiefsitzenden Angst und Erschöpfung. Es gibt beispielsweise informelle Warnsysteme, mit denen sich Nachbarn versuchen, gegenseitig vor Gewalt zu warnen, weil diese so sehr an der Tagesordnung ist.
Laut israelischen Angaben handelt es sich um eine kleine Minderheit von Extremisten, die für die Gewalt verantwortlich sein soll.
Die Rede von der kleinen Minderheit ist natürlich politisch bequem, weil sie nicht dazu zwingt, ernsthafte politische Konsequenzen zu ziehen. Wir reden hier aber nicht von ein paar radikalen Menschen. Wenn wir nur auf die Siedler-Community gucken, reden wir von über 700'000 Menschen, Ostjerusalem und Westjordanland zusammengenommen, die ein System etabliert haben, das ihnen Rechte und Privilegien zugesteht.
Die Botschaft der Regierung scheint sehr klar zu sein, dass Siedler im Grunde machen können, was sie wollen.
Die Siedlungen stehen bekanntlich unter israelischem Militärrecht. Die Gewalt gegen Palästinenser wird dort fast nie ernsthaft strafrechtlich verfolgt. Die Botschaft der Regierung scheint sehr klar zu sein, dass Siedler im Grunde machen können, was sie wollen.
Israels Ministerpräsident Netanjahu versprach Massnahmen, um die Gewalt einzudämmen. Was tut er konkret?
Konkret tut er nichts. Die Rhetorik wird in Reaktion auf den gestiegenen internationalen Druck angepasst. Die Annexion der palästinensischen Gebiete im Westjordanland ist aber Regierungspolitik. Das hat Premierminister Benjamin Netanjahu mehrmals öffentlich gesagt.
Wie steht es umgekehrt mit Übergriffen von Palästinensern auf Siedler und israelische Soldaten?
Ja, die gibt es natürlich, die sollte man auch nicht ausklammern. Es geht aber nicht um eine symmetrische Gewalt-Beziehung. Es ist die völkerrechtswidrige Besatzung, die diese Gewalt auf beiden Seiten in erster Linie hervorbringt. Die staatliche Gewalt müsste in erster Linie begrenzt werden.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.