Israel droht damit, Gaza-Stadt zu erobern und die Hamas zu besiegen, falls diese nicht zur Entwaffnung und zur Freilassung aller verbliebenen Geiseln bereit ist. Doch was ist nach fast zwei Jahren Krieg von der radikal-islamistischen Organisation übriggeblieben? Israel hat bereits nach den Terrorangriffen vom 7. Oktober 2023 die Vernichtung der Hamas zum Ziel erklärt. SRF News hat mit dem Militärexperten Wolfgang Richter darüber gesprochen.
SRF News: Wieso hat Israel sein Ziel, die Hamas zu vernichten, noch nicht erreicht?
Wolfgang Richter: Zunächst müssen wir davon ausgehen, dass der militärische Teil der Hamas-Organisation überwiegend einen Krieg aus dem Untergrund führt, also aus untertunnelten Verstecken. Der Gazastreifen – auch gerade Gaza-Stadt – ist weitgehend untertunnelt und das ermöglicht es den Hamas-Kämpfern, an verschiedenen Orten überraschend zuzuschlagen. Sie sind nicht in der Lage, in einer offenen Feldschlacht den israelischen Truppen Paroli zu bieten. Aber sie können diesen Guerillakrieg aus dem Untergrund führen. Das bedeutet umgekehrt für die Israeli, dass sie den Gazastreifen Stück für Stück umgraben müssten, um diese letzten Hamas-Kämpfer dort herauszuholen und die Geiseln zu befreien, die auch in diesen Tunneln stecken.
Wie viele Hamas-Kämpfer hat die israelische Armee bis jetzt getötet?
Vor Beginn der israelischen Angriffe – nach dem 7. Oktober 2023 – haben wir Schätzungen gehabt, dass man es mit ungefähr 30'000 bis 35'000 Hamas-Kämpfern zu tun hat. Schon am Ende des ersten Jahres haben die Israeli 5000 tote Hamas-Kämpfer gemeldet. Ende letztes Jahres, 2024, haben sie von 20'000 Toten gesprochen. Man muss dazu immer noch die vielen Verwundeten und Schwerverwundeten hochrechnen. Das bedeutet eigentlich, nach der Ausgangszahl hätte man die Hamas schon zerstören müssen.
Man nimmt hier einen Krieg in Kauf, wo sich die Zivilbevölkerung von den Kämpfern schwer unterscheiden lässt.
Aber der Zulauf von jungen männlichen Kämpfern wird anhalten und sich vielleicht noch verstärken, je brutaler die Angriffe sind. Das ist das eigentliche Problem. Man nimmt hier einen Krieg in Kauf, in dem sich die Zivilbevölkerung von den Kämpfern schwer unterscheiden lässt. Und in dem aufgrund der hohen zivilen Verluste immer mehr junge Männer freiwillig für die Hamas kämpfen, um möglicherweise ihre Verwandten zu rächen.
Sie sagen, es gebe noch wenige verbleibende Kämpfer der Hamas. Können diese der israelischen Armee doch noch gefährlich werden?
Also wenn ich von «relativ wenigen Kämpfern» rede, dann meine ich die Ausgangsstärke, die ja international auf 30'000 bis 35'000 aktive Kämpfer geschätzt worden ist. Diese haben aber Zulauf erhalten, sodass sie sich fortwährend auch verstärken können. Das heisst, die verbleibenden Kämpfer werden jünger. Sie sind nicht professioneller, sondern sie werden wahrscheinlich auch höhere Verluste in Kauf nehmen, weil sie weniger trainiert sind. Aber der Zulauf hält an.
Es braucht eine Lösung, die das humanitäre Elend beseitigt, die die Geiseln entlässt und die dazu führt, dass die Kämpfe eingestellt werden, damit die Zivilbevölkerung geschützt wird.
Das bedeutet am Ende auch, dass man eine Trümmerwüste hinterlässt, dass das zivile Leid grösser wird, die Verluste ansteigen und dass dadurch im Grunde genommen die Hamas nicht wirklich zu besiegen ist, weil sich immer mehr junge Menschen rekrutieren lassen. Es sei denn, man findet jetzt eine politische Lösung. Es braucht eine Lösung, die das humanitäre Elend beseitigt, die die Geiseln entlässt und die dazu führt, dass die Kämpfe eingestellt werden, damit die Zivilbevölkerung geschützt wird. Dazu gehört, dass man sich im Klaren darüber werden muss, wie der zukünftige politische Status des Gazastreifens aussehen soll.
Das Gespräch führte Christof Forster.