Zum Inhalt springen

Nato soll verändert werden Nato 2.0: Ein Leben nach dem Hirntod

Selten hat ein Interview so hohe diplomatische Wellen geworfen wie jenes des britischen Magazins «Economist» mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron: Im November vergangenen Jahres hatte Macron dem Verteidigungsbündnis Nato nichts weniger als den «Hirntod» bescheinigt.

Ein Jahr später liegen die Vorschläge einer Expertengruppe vor, die der Nato neues Leben einhauchen sollen. Die Nato-Aussenminister haben sich nun ein erstes Mal über den Expertenbericht ausgetauscht, ein Entscheid ist frühestens 2021 zu erwarten. Zu den aufsehenerregendsten Vorschlägen gehört die Aufweichung des Einstimmigkeits-Prinzips.

Dieses gilt in der Nato bisher auf allen Ebenen. Nicht nur bei den Treffen von Staats- und Regierungschefs und Ministern, sondern auch in Sitzungen mit Offizieren, Diplomaten und Experten hat jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht.

Für alle 30 Nato-Staaten verbindlich ist nur die sogenannte Beistandspflicht: Wird einer angegriffen, müssen die anderen ihm beistehen. Doch auch da gibt es keinen Automatismus, jeder Staat entscheidet selbst über seine Militäreinsätze.

Fehlende Daseinsberechtigung

Macrons «Hirntod»-Vergleich entspringt einer wenig originellen Erkenntnis: Die Nato ist zwar militärisch fit, doch die ursprüngliche Daseinsberechtigung ist ihr abhandengekommen. Denn mit der Sowjetunion hat sich vor 30 Jahren auch das Feindbild der Nato in Luft aufgelöst.

Zwar hat sie sich mit Russland, China und dem islamistischen Terrorismus neue Feindbilder gegeben. Doch bei deren Einschätzung herrscht unter den Nato-Staaten keine Einigkeit.

Zumal sich die Nato-Staaten immer häufiger als Konfliktparteien gegenüberstehen. Beinahe eskaliert wäre etwa der Streit zwischen den beiden Nato-Staaten Griechenland und Türkei um die Erdgasförderung im Mittelmeer. Den türkischen Einmarsch in Syrien haben viele andere Nato-Staaten heftig verurteilt, ebenso den Erwerb russischer Waffen durch die Türkei.

Doch entscheiden konnte die Nato jeweils – nichts. Das Einstimmigkeits-Prinzip verdammt die Nato immer öfter zum Nichtstun.

Nicht revolutionär

Die Expertengruppe schlägt deshalb nun eine Aufweichung des Einstimmigkeits-Prinzips vor. Auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs und der Minister soll es zwar weiter gelten. Darunter aber, auf der Stufe von Generälen, Diplomaten und Experten, sollen künftig Mehrheitsentscheide möglich sein.

Die Nato-Staaten könnten so unliebsame Vorschläge und Entscheide nicht weiter frühzeitig und diskret auf niedriger Stufe blockieren, sondern müssten dafür ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale werfen.

Revolutionär wäre die Reform nicht, denn Nato-Staaten hätten in letzter Instanz weiter ein Vetorecht. Dennoch haben sich die Türkei oder auch Ungarn bereits gegen jedwede Aufweichung des Einstimmigkeits-Prinzips ausgesprochen.

Zum Scheitern verurteilt

Mit der Reform würde die Nato ein kleines Stück öffentlicher, lebendiger. Doch längst nicht alle Mitgliedstaaten fänden das gut. Viele sehen in der Nato ausschliesslich eine Art Lebensversicherung, einen militärischen Verteidigungspakt, der bisher auch mit Einstimmigkeits-Prinzip seinen Zweck erfüllt. Denn noch nie seit der Gründung der Nato ist ein Mitgliedstaat militärisch angegriffen worden.

Anfang 2021 werden sich die Staats- und Regierungschefs an einem Nato-Gipfel in Brüssel mit den Reformvorschlägen beschäftigen. Die Aufweichung des Einstimmigkeits-Prinzips dürfte vermutlich am Einstimmigkeits-Prinzip scheitern.

Sebastian Ramspeck

Internationaler Korrespondent

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Sebastian Ramspeck ist internationaler Korrespondent für SRF. Zuvor war er Korrespondent in Brüssel und arbeitete als Wirtschaftsreporter für das Nachrichtenmagazin «10vor10». Ramspeck studierte Internationale Beziehungen am Graduate Institute in Genf.

Hier finden Sie weitere Artikel von Sebastian Ramspeck und Informationen zu seiner Person.

SRF 4 News, 2.12.2020, 10:14 Uhr

Meistgelesene Artikel