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Neue Offensive Weshalb kommt die israelische Offensive genau jetzt?

Vor wenigen Tagen kündigte der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu eine neue Offensive im Gazastreifen an. Weshalb sie genau jetzt kommt und was die neue Zielsetzung Israels ist, ordnet der deutsch-israelische Journalist Ofer Waldman im Interview ein.

Ofer Waldman

Israelischer Autor und Journalist

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Ofer Waldman ist deutsch-israelischer Autor und Journalist. Er befindet sich derzeit in Israel und wird ab Sommer 2025 das Büro von der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv leiten.

SRF News: Weshalb kommt die israelische Offensive im Gazastreifen genau jetzt?

Ofer Waldman: Man kann nur vermuten. Einerseits hat US-Präsident Donald Trump die Region in der letzten Woche besucht – Israel allerdings nicht. Es gab Stimmen, die gesagt haben, Netanjahu wollte mit dieser Grossoffensive Trumps Aufmerksamkeit wecken.

Es ist eine Mischung aus geopolitischen und innenpolitischen Interessen, die wahrscheinlich den Zeitpunkt dieses Angriffs bestimmt haben.

Andererseits dürfen wir nicht vergessen: Für Netanjahu tickt eine politische Uhr. Innerhalb seiner Koalition sitzen rechte bis rechtsextreme Kräfte, die ganz offen eine Neubesiedlung des Gazastreifens propagieren. Diese Kräfte machen die Fortsetzung des Krieges zur Bedingung für ihr Bleiben in der Koalition, die Netanjahus politische Zukunft sichert. Das heisst, es ist eine Mischung aus geopolitischen und innenpolitischen Interessen, die wahrscheinlich den Zeitpunkt dieses Angriffs bestimmt haben.

Neu ist, dass man ganz offen darüber redet, dass die israelische Armee in den eroberten Gebieten bleiben wird.

Wie will Israel im Gazastreifen genau vorgehen?

Dieses Mal gibt es eine andere Zielsetzung zu diesem Angriff. Man redet nicht mehr von der gleichwertigen Zielsetzung «Befreiung der Geiseln» und «Zerschlagung der Hamas», sondern man sagt: Das erste Ziel ist die Zerschlagung der Hamas. Erst dann kommen die Geiseln. Auch neu ist, dass man ganz offen darüber redet, dass die israelische Armee in den eroberten Gebieten bleiben wird. Sie wird sich also nicht mehr zurückziehen.

Was hat Israel konkret mit dem Gazastreifen vor?

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Ofer Waldman spricht von mehreren Zielen: «Für die rechtsextremen Parteien, für die Siedlerparteien ist das Ziel dieses Krieges ganz klar: die Neubesiedlung des Gazastreifens unter Vertreibung grosser Teile der palästinensischen Zivilbevölkerung. Bei Netanjahu würde ich eine andere Zielsetzung sehen. Bei ihm geht es in der Tat um das politische Überleben, auch ein Stück weit, um vergessen zu machen, dass er der Ministerpräsident am 7. Oktober war. Natürlich, die Verantwortung für den mörderischen Angriff am 7. Oktober trägt die Hamas. Aber Netanjahu war Ministerpräsident in dieser Zeit. Das heisst, er will seinen Anteil daran vergessen machen. Er ist auch damit beschäftigt, seine Koalition intakt zu halten. Wir sehen, dass die rechtsextremen Kräfte in der israelischen Regierung nicht zum ersten Mal den Ton angeben.»

Was kommt jetzt auf die Bevölkerung in Gaza zu?

Die Informationen, die wir aus dem Gazastreifen haben, stammen entweder von internationalen Hilfsorganisationen wie World Central Kitchen, die dort noch tätig sind, oder aus dem Gesundheitsministerium, das allerdings in den Händen der Hamas ist. Wir hören von Hungersnot. Wir wissen, dass die Infrastruktur im Gazastreifen, die Wasserversorgung und die Elektrizität nicht mehr vorhanden sind. Das heisst, die Lage ist desolat.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat angekündigt, humanitäre Hilfslieferungen wieder zuzulassen. Dies aber erst, nachdem Donald Trump letzte Woche seine Sorge vor einer Hungersnot geäussert hatte. Da hat Netanjahu eingelenkt und angekündigt, dass als Teil dieses Angriffs auch Zentren für die Verteilung humanitärer Hilfe errichtet werden. Ob es tatsächlich so kommt, werden wir sehen. Heute Morgen sind erst wenige LKW mit humanitärer Hilfe in den Gazastreifen gekommen.              

Menschen laufen auf staubigem Weg, Stadt im Hintergrund.
Legende: Die israelische Offensive löst erneut Fluchtwellen aus: Palästinenserinnen und Palästinenser fliehen aus Chan Yunis. (19. Mai 2025) Keystone / Abdel Kareem Hana

Wie kommt die Offensive in Israel an?

Die Stimmen, die nicht nur den militärischen Sinn hinter diesem neuen Angriff hinterfragen, sondern auch die Kriegsführung an sich und vielleicht sogar die politische Motivation hinter diesem Krieg, die werden lauter. Die rechtsextremen Kräfte in der israelischen Regierung geniessen keineswegs eine Mehrheit in der israelischen Bevölkerung. Und man fragt sich: Wieso wird dieser Krieg fortgesetzt?

Das Bewusstsein um die grausame Realität in Gaza kommt in Israel langsam an.

Auch die Stimmen in Israel, die sagen, die Fortsetzung dieses Krieges gefährde das Leben der Geiseln, werden lauter. Und wenn man zum Beispiel auf die Grossdemonstrationen am letzten Wochenende in Tel Aviv schaut: Dort haben Aktivistinnen und Aktivisten Bilder toter Kinder aus Gaza gezeigt. Das heisst, das Bewusstsein um die grausame Realität in Gaza kommt in Israel langsam an.

Das sagt Netanjahu über die neue Offensive

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1. «Wir werden die Kontrolle über alle Gebiete des Gazastreifens übernehmen.»

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat öffentlich bestätigt, dass seine Regierung die vollständige Einnahme des Gazastreifens anstrebt. Die grossangelegte Offensive mit Luftangriffen und Bodentruppen vertieft die Unsicherheit der Bevölkerung und schürt Sorgen vor weiterer Vertreibung. Internationale Kritik wächst angesichts der Andeutung einer dauerhaften Besetzung.

2. «Wir werden eine minimale Menge an Lebensmitteln erlauben.»

Nach zweieinhalb Monaten Blockade kündigte Israel begrenzte Hilfslieferungen an, um eine Hungersnot zu verhindern. Es bleibt unklar, wann, über welchen Grenzübergang und in welchem Umfang diese Lieferungen erfolgen sollen. Medien berichten, dass nur wenige Lastwagen mit Babynahrung, Mehl und medizinischer Ausrüstung ins Gebiet gelangen könnten. Hilfsorganisationen warnen, dass die geplanten Verteilungszentren in einer von Israel kontrollierten «humanitären Zone» nicht ausreichend seien und gefährdete Zivilisten sie nicht erreichen könnten.

3. «Um einen Sieg über die Hamas zu erringen, darf es keine Hungersnot geben.»

Netanjahu begründet die Freigabe der Hilfslieferungen mit strategischen Zielen: Die Entscheidung sei wichtig für die internationale Unterstützung und den Kampf gegen die Hamas. Gleichzeitig fordert Israels Armee die Bewohner der Stadt Chan Junis auf, vor einer «beispiellosen Offensive» zu fliehen. Die Offensive soll den Druck auf die Hamas erhöhen, um die Freilassung der noch immer festgehaltenen Geiseln zu erreichen.

Das Gespräch führte Reena Thelly.

News Plus, 19.05.2025, 16 Uhr ; 

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