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Neue Strategie bei den Taliban Bürgernähe statt Bombengürtel

Die Taliban in Afghanistan scheinen zu erstarken. Das hat mit einem Strategiewechsel der Aufständischen zu tun. Sie versuchen, politisch Fuss zu fassen. Der IS hat keine politische Strategie im Land und fristet ein Schattendasein.

Die Meldungen von Anschlägen in Afghanistan reissen nicht ab. Kürzlich wurden mehrere Militärstützpunkte im Norden des Landes angegriffen und eine Stadt eingenommen, dann ereignete sich im Osten des Landes ein Anschlag, bei dem über 20 Menschen starben. Die Taliban scheinen stärker denn je.

Taliban-Kämpfer feiern die Waffenruhe rund um den Ramadan.
Legende: Letztlich sind es die Taliban, die, wie hier im Juni, bestimmen, wann die Waffen schweigen. Reuters

In den vergangenen Monaten konnten die Taliban Boden gut machen in Afghanistan. Laut Militärangaben kontrollieren die Aufständischen heute knapp einen Siebtel des Landes, ein weiterer Drittel ist umkämpft. Nur gerade die Hälfte der Bezirke in Afghanistan ist unter der Kontrolle der afghanischen Regierung.

Plündern und eine gute Presse haben

Dass die Taliban heute weniger Selbstmord-Attentate verüben, habe mit einem Strategiewechsel der Aufständischen zu tun, sagt Obaid Ali, von der Denkfabrik Afghan Analyst Network: «Seit April dieses Jahres setzen sie mehr auf Grossoffensiven in den Provinzhauptstädten und weniger auf Selbstmordattacken», sagt der Experte. So hätten sie kurzzeitig die strategisch wichtigen Städte Farrah und Ghazni einnehmen können. Es sei jedoch gar nicht ihr Ziel, diese Städte zu halten, erklärt Obaid Ali weiter.

«Die Taliban wollen einerseits diese Städte plündern, um sich Waffen, Fahrzeuge und Bargeld zu verschaffen und andererseits, um der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, dass mit ihnen nach wie vor zu rechnen ist.»

Die US-Strategie war bisher kaum wirksam

Die Strategie der anderen Seite, namentlich der USA, mache den Taliban nicht viel Eindruck, sagt Obaid Ali. Dies obwohl US-Präsident Donald Trump vor einem Jahr seine Truppen im Land wieder aufgestockt hat, um die afghanischen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Und er hat mehr Drohnen-Angriffe gegen die Taliban fliegen lassen.

Aus dieser neuen Trump-Strategie würden aber kaum territoriale Gewinne für die afghanischen Truppen resultieren, sagt Obaid Ali. Solche Aktionen würden im besten Fall die Taliban daran hindern ihre Präsenz noch mehr auszuweiten.

Die neue Strategie der Taliban scheint also zurzeit aufzugehen. Je mehr Grossoffensiven sie starten, desto grösser ist ihr Verhandlungsspielraum in Gesprächen mit den USA. Heute stehen die Zeichen für die Taliban jedenfalls besser denn je, direkt mit den USA verhandeln zu können. Die US-Regierung hat das bisher immer ausgeschlossen, das tut sie jetzt nicht mehr kategorisch.

«Atemberaubender Normalität» trotz IS und Taliban

Die Menschen in Afghanistan sind diesen Krieg schon lange müde, sagt SRF-Südasienkorrespondent Thomas Gutersohn. Sie wollen Frieden. Wer ihn bringt, ist inzwischen zweitrangig geworden.

Wie die Zivilbevölkerung ihren Wunsch nach Normalität in den ganzen Horror einzubauen verstehe, sei atemberaubend, sagt Gutersohn. Die folgende Bildergalerie und das Interview danach zeigt dies deutlich.

Das Kabul von heute

SRF News: Die Taliban kommen weg vom Sprengstoffgürtel. Sie überfallen neuerdings Städte, plündern sie aus und ziehen sich wieder zurück. Wie müssen sich das unsere Leser vorstellen?

Thomas Gutersohn: Die afghanische Armee ist nicht besonders gut ausgebildet. Die Taliban sind dagegen versierte Guerilla-Kämpfer. Sie infiltrieren die Zivilbevölkerung, unterwandern Sicherheitskräfte, umzingeln die Stadt und überrennen sie dann. Danach nehmen sie mit, was sie brauchen können, Autos, gepanzerte Fahrzeuge, Raketenwerfer, und ziehen sich wieder zurück. Die regulären Truppen sind mit dieser Taktik überfordert.

Thomas Gutersohn

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Thomas Gutersohn hat in Genf Internationale Beziehungen studiert und arbeitet seit 2008 bei Radio SRF. Ab 2012 berichtete er als Korrespondent aus der Westschweiz. Seit 2016 lebt er im indischen Mumbai und berichtet für SRF aus Indien und Südasien.

Was ist die langfristige Idee hinter dieser Strategie? Haben die Taliban ihr Primärziel, in Afghanistan ein islamisches Emirat zu konstituieren, aufgegeben?

Nein, überhaupt nicht. Die Kämpfer haben aber gelernt, dass ihr Ziel nicht ohne die Bevölkerung zu erreichen ist. Selbstmordattentate mit Dutzenden von toten Zivilisten sind nicht zielführend. Nur wenn es den Taliban gelingt, in der Wahrnehmung der Bevölkerung eine politische Option auf dem Weg zum Frieden zu sein, hat ihr Kampf überhaupt eine Chance. Das lässt sich auch an der veränderten Verlautbarungs- und Bekennungs-Kultur ablesen. Es kann sein, dass die Taliban ein Attentat ausführen mit 70 Toten. Nach Aussen verurteilen sie ihr eigenes Attentat, weil die Toten für ihr Image in der Bevölkerung schlecht sind. Nach einer Weile dann kommt der IS und reklamiert den Anschlag für sich.

Die Taliban möchten direkte Gespräche mit den USA führen. Was haben die Taliban von einer solchen Verhandlung – Donald Trump wird ihnen kaum ihren Traum vom Emirat erfüllen?

Es ist für alle Beteiligten schwierig. Auch für die USA. Trump möchte seine «Boys» heimholen. Das geht schlecht, wenn hier ein Bürgerkrieg herrscht. Die Taliban ihrerseits sind heute nicht mehr so homogen wie früher. Innerhalb ihrer Strukturen gibt es Verwerfungen der Machtansprüche. Mit diesen Gesprächen will man Querläufern den Wind aus den Segeln nehmen. Und man kann sich in der Bevölkerung als Friedensstifter inszenieren, der die USA an den Verhandlungstisch bringt. Viele Menschen in Afghanistan sagen: Wir wollen einfach nur Frieden, wer uns regiert, ist uns egal.

Würde das denn eintreffen, wenn man Afghanistan einfach sich selber überliesse?

Das glaube ich nicht. Viele die jetzt in der Regierung mithelfen, mit den USA verbündet, würden sich nie unter die Herrschaft der Taliban begeben. Abdul Raschid Dostum zum Beispiel. Der amtierende Vizepräsident war früher ein afghanischer Milizenführer, der mehrere Regionen im Norden des Landes unter Kontrolle hatte. Sollten die Taliban an die Macht kommen, würde Dostum, wie viele andere, sofort wieder für seine eigenen Interessen und die seines Clans agieren. Und da gibt es noch viele mehr.

Welche Rolle spielt der IS? Könnten die Extremisten in die Lücke einer paktierenden Taliban nachrücken?

Auf das Konto des IS in Afghanistan gehen zwar mehr zivile Opfer als auf jenes der Taliban. Dennoch ist der IS für die afghanische Regierung keine so grosse politische Bedrohung wie die Taliban. Der IS hat in Afghanistan gar keine politischen Ziele. Es geht ihnen bei ihrem Morden – so zynisch das klingt – um Publicity. Die Welt soll hören, dass sie noch da sind. Auch wenn es ihnen nicht gelungen ist, nach ihrer Implantierung 2014 in der Provinz Nangarhar noch weitere Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. In der Bevölkerung haben sie kaum Rückhalt und so wird der IS wohl auch in Zukunft für das politische Schicksal des Landes keinen so grossen Einfluss haben.

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