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Neue Verfassung für Chile Abschied vom Pinochet-Erbe

Chile schreibt Weltgeschichte. Die neue Verfassung wird von einem Konvent verfasst, der zur Hälfte aus Frauen und zur Hälfte aus Männern besteht. Am Samstag und am Sonntag werden die Mitglieder dieses Verfassungskonvents gewählt.

Wie viele tausend andere, vor allem junge Chilenen, ging auch Natalia Aravena im Oktober 2019 auf die Strasse, um zu demonstrieren: gegen die Ungleichheit im Land, für würdige Renten, für ein funktionierendes Gesundheitssystem.

Die chilenische Aktivistin Natalia Aravena mit einer Hand vor dem fehlenden Auge.
Legende: Royerliz Garcia

Heute trägt sie eine Augenprothese, denn eine Tränengasgranate der Polizei traf die Krankenschwester aus nächster Nähe ins Gesicht. Nun will sie an einer neuen Verfassung für Chile mitschreiben. In ihren Spots bei Social Media hält sie die Prothese in die Kamera – das Kunststoffauge ist zu ihrem Markenzeichen geworden.

«In Chile hängt alles vom Geld ab, sogar Gesundheit oder Bildung, so kann es nicht weitergehen», sagt Aravena. «Es muss ein Recht auf Bildung geben, auf Wohnraum, auf einen Anschluss an die Kanalisation, auf Wasser, auf ein funktionierendes Gesundheitssystem. Das alles sind keine Almosen, sondern grundlegende Funktionen des Staates.»

Die Regierung gab dem Druck der Strasse nach und berief Ende 2020 ein Referendum ein: Die überwältigende Mehrheit der Chilenen stimmte für eine neue Verfassung.

An diesem Wochenende wird nun abgestimmt, wer diese schreiben soll. Zur Wahl stehen mehr als 1300 Kandidaten, für 155 Sitze. Eine neue Verfassung für Chile – es war eine der Hauptforderungen an den Demonstrationen, die mehrere Monate dauerten. Die aktuelle Carta Magna des Landes stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990).

Wahlwerbung: Eine Sekunde Sendezeit

Dass es unabhängige Kandidaten wie Aravena wirklich in den Verfassungskonvent schaffen, ist wenig wahrscheinlich: Das System der Wahlwerbung ist nach dem Parteiengesetz ausgelegt. Während grosse Parteien mehrminütige Wahlspots in Fernsehen senden durften, gab es für die Unabhängigen pro Kandidaten gerade mal eine Sekunde, um sich vorzustellen. Anders gesagt: Zu wenig Zeit, um auch nur den vollen Namen auszusprechen. Deshalb sah man in den letzten Monaten überall im Land Autokorsos als Wahlwerbung, Aktivitäten bei Social Media, Kandidaten verteilten auch Flyer auf Wochenmärkten.

Auch wenn sie nicht gewinnen sollte, will sich Natalia Aravena weiter engagieren, insbesondere für ein besseres Gesundheitssystem: «Es kann doch nicht sein, dass Menschen auf der Warteliste für eine Operation stehen. Und wenn sie endlich angerufen werden, sind sie schon tot.»

Sie ist besorgt, dass zentrale Forderungen der Protestbewegung es in der verfassungsgebenden Versammlung schwer haben könnten: «Wir haben eine einmalige Chance, ein gerechteres Chile zu schaffen. Aber die Veränderungen werden nicht leicht durchzusetzen sein.» Tatsächlich braucht es für alle Vorschläge eine Zweidrittel-Mehrheit in der Verfassungsgebenden Versammlung – eine schwer zu erreichende Hürde.

Historischer Tag für Frauenrechte

Schon jetzt ist die Abstimmung am Wochenende historisch: Zu ersten Mal in Chile wird an zwei Tagen gewählt statt nur an einem Sonntag – um in der Pandemie Menschenansammlungen zumindest ein Stück weit zu vermeiden. Und: Die neue Verfassung soll die erste weltweit werden, die von einem Konvent verfasst wird, das zur Hälfte aus Frauen und zur Hälfte aus Männern besteht.

2022 soll der Text dem Volk in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt werden. Dann erst wird sich endgültig entscheiden, ob Chile wirklich neue Wege geht.

SRF Tagesschau, 14.05.2021, 12:45 Uhr

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