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Ontarios Taskforce-Direktor «Würden wir wie die Schweiz vorgehen, hätten wir Kriegszustände»

Kanada leidet unter einer dritten Corona-Welle. Zum ersten Mal in dieser Pandemie sind die Ansteckungszahlen verhältnismässig höher als im Nachbarland USA. Spitäler kommen an ihre Kapazitätsgrenzen. In der Provinz Ontario bereiten sich einige Spitäler auch auf eine Triage von Patienten vor.

Mittendrin in dieser angespannten Lage in Kanada ist der Schweizer Peter Jüni, Professor für Epidemiologie an der Universität von Toronto. Er ist der Direktor des wissenschaftlichen Gremiums, das die Regierung von Ontario in der Pandemie berät. Der Epidemiologe hat sich wiederholt sehr kritisch und teilweise emotional zu den Entscheidungen der Regierung geäussert.

Peter Jüni

Epidemiologe und Direktor des wissenschaftlichen Pandemie-Beratergremiums von Ontario

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Peter Jüni ist Direktor des «Applied Health Research Centre (AHRC)» am Li Ka Shing Knowledge Institut des St. Michael's Hospital in Kanada. Er ist Professor an der Universität in Toronto und Direktor der wissenschaftlichen Taskforce der Provinzregierung in Ontario.

Jüni ist Absolvent der Medizinischen Fakultät der Universität Bern und absolvierte seine Ausbildung in Innerer Medizin an verschiedenen Krankenhäusern in der Schweiz. Jüni war Gründungsdirektor der CTU Bern, der Abteilung für klinische Studien der Universität.

SRF News: Was läuft schief im Pandemie-Management in Ontario?

Peter Jüni: Es ist im Prinzip, was wir überall sehen in der Welt. Die Pandemie, wie sie sich jetzt darstellt, ist generell extrem schwierig für Politiker. Politiker sind typischerweise sehr kurzfristig orientiert. Sie können das Verständnis für diese Komplexität nicht aufbringen und fokussieren sich auf kurzfristige Erfolge. Das macht es schwierig.

Die gefährlichen Varianten B 1.1.7 sind die perfekte Sabotage für jedes politische System.

Die Variante B.1.1.7 ist 40 bis 50 Prozent mehr übertragbar. Das heisst, dass die Massnahmen, welche vorher funktioniert haben, nicht mehr wirken.

In Kanada leben viele Leute mit sehr wenig oder keiner sozialen Sicherheit. 50 Prozent unserer Fälle sind Leute, die in diesen prekären Arbeitsbedingungen dafür sorgen, dass wir anderen zu Hause bleiben können. Viele haben keine Lohnfortzahlung, keine soziale Sicherheit und viel zu wenig Unterstützung. Diese Pandemie hat nun im Prinzip genau das demaskiert. Es ist überall dieselbe Geschichte: Das Leben ist nicht gerecht – «Life is unfair».

Fühlen Sie sich als wissenschaftlicher Berater der Regierung gehört?

Meine Funktion muss sein, so gut und effizient wie möglich zu kommunizieren. Und ich habe schon mehrmals betont: Meine Rolle ist, das Offensichtliche aufzuzeigen. Ich versuche dies in der Öffentlichkeit, aber auch im Hintergrund mit den Ministerien so klar wie möglich zu machen.

Das lief bis Februar relativ gut. Obwohl wir versucht haben, die Problematik so sichtbar wie möglich zu machen, sind dann die politischen Überlegungen zu stark eingeflossen. Wenn wir dasselbe machen würden wie die Schweiz, dann hätten wir bezüglich Coronavirus Kriegszustände. Das ist völlig klar, weil die sozialen Unterschiede so gross sind. Und es ist schwierig zu verstehen, insbesondere für einen konservativen Politiker.

Vor gut einer Woche sprachen Sie vom «schwärzesten Tag Ihrer Karriere». Doug Ford, der Premierminister von Ontario, hatte entschieden, Spielplätze zu schliessen und dass die Polizei wahllos Menschen kontrollieren und büssen kann. Was hat Sie so enttäuscht an diesem Entscheid?

Wenn man die Charakteristika dieser Pandemie einigermassen versteht, dann weiss man: Die Pandemie findet primär drinnen statt, und nicht draussen. Wenn man das in den Griff kriegen will, dann muss man das drinnen tun.

Unsere Rolle als Wissenschafter ist, dass wir uns weiter den Hintern aufreissen müssen.

Das andere Charakteristikum ist: Es ist eine sozioökonomisch getriebene Pandemie. 50 Prozent der Betroffenen arbeiten in schlechtbezahlten Jobs, zum Beispiel in Supermärkten oder Lagerhäusern. Daher müssen wir diese Leute unterstützen, damit sie zu Hause bleiben können, wenn sie erkranken oder exponiert sind. Das funktioniert via Lohnfortzahlung. Die kanadische Regierung hat aber zu diesem Zeitpunkt falsch entschieden.

Sie haben sich überlegt, aus dem wissenschaftlichen Beratergremium zurückzutreten. Wieso sind Sie nicht gegangen?

Meiner Meinung nach haben wir ein Kommunikationsproblem. In Situationen wie dieser, wenn das so diskrepant ist, frage ich mich selber: Was habe ich falsch gemacht? Was hätte ich anders machen können? Ich habe mich aber auch gefragt, ob ich nicht zurücktreten soll, um die Situation zu verbessern zugunsten der Provinz. Es wurde dann aber relativ rasch klar, dass ein Rücktritt keine gute Idee gewesen wäre. Das Vakuum wäre zu gross.

Welche Beziehung zur Politik würden Sie sich denn als Wissenschaftler in dieser Pandemie wünschen?

Unsere Rolle als Wissenschafter ist, dass wir uns weiter den Hintern aufreissen müssen, damit wir die Provinz Ontario so gut wie möglich durch die Pandemie bringen. Wir tun dies im Wissen, dass es für keine Politikerin und keinen Politiker weltweit ein Zuckerschlecken ist. Es ist einfach sehr schwierig zu verstehen.

Was in der Schweiz alles gelockert wird. Da mache ich mir schon schwer Sorgen, dass da nicht die falschen Schritte passieren.

Ich muss ehrlich sagen: Wenn ich sehe, was in der Schweiz alles gelockert wird – zum Beispiel Kino-Besuche. Da mache ich mir schon schwere Sorgen, dass da nicht die falschen Schritte passieren. Dies, obwohl man in der Schweiz – im Vergleich zu hier – im Disneyland lebt. Die Leute vergessen, wie privilegiert die Schweiz ist.

Kaum Parallelen zur Schweiz

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Sozioökonomisch gesehen stehe Ontario massiv schlechter da, erklärt Jüni. Aber bezüglich Kommunikation sei man in Kanada wahrscheinlich noch in einer besseren Lage als in der Schweiz. «Das hängt damit zusammen, dass sich der Co-Vorsitzende der kanadischen Corona-Taskforce, Adalsteinn Brown, täglich mit der Regierung trifft. Ich treffe mich auch wöchentlich mit Ministern und dem Krisenstab. Ich habe aber aus der Schweiz gehört, dass der Vorsitzende der Schweizer Taskforce vor eine Weile gesagt hat, dass er seit sechs Wochen nichts mehr von Gesundheitsminister Alain Berset gehört habe.» Es gebe in Kanada einen anderen Groove. Die Leute stünden mehr zusammen, glaubt Jüni. «Wir sind als wissenschaftliche Community irgendwie vereint.»

SRF 4 News, 27.04.2021, 08:45 Uhr ; 

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