Zum Inhalt springen

Orban und der Dauernotstand Kriegsnotstand, um in Frieden zu herrschen

Nehmen wir an, Russland greift ein weiteres Land an: Es wäre kaum Ungarn. Ungarn will weiter russische Energie kaufen, streitet deswegen gerade mit dem Rest der Europäischen Union. Die ungarischen Staatsmedien zeigen viel Verständnis für den russischen Angriff auf die Ukraine.

Nehmen wir an, Ungarn, Nachbarland der Ukraine, fürchtet sich davor, dass zu viele Flüchtlinge kommen. Das wird kaum passieren. Zahlen zeigen nämlich, dass die allermeisten Ukrainerinnen und Ukrainer, die einreisen, nicht in Ungarn bleiben. Gespräche mit Geflohenen zeigen, dass die Anmeldung in Ungarn zu kompliziert, die Hilfe des Staats zu gering ist.

Bitte keine Störfeuer

Nehmen wir an, die ungarische Regierung will eingreifen, wenn andere Verwerfungen des Krieges das Leben durcheinanderbringen, Lieferengpässe und Inflation zum Beispiel. Sie kann aber schon jetzt fast alles tun: Mit seiner deutlichen Mehrheit im Parlament kann Orban die Verfassung umschreiben und jedes Gesetz, das er möchte, durchsetzen.

Nehmen wir also nochmal Anlauf für eine Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet in Ungarn Kriegsnotstand herrscht. Vielleicht lautet die Antwort ganz einfach: Weil Viktor Orban gerne in Frieden, ungestört, herrscht.

Entscheiden ohne Widerrede

Um das zu verstehen, muss man sich ein paar der Dinge anschauen, die Ungarns Regierungschef in zwei Jahren Corona-Notstand beschlossen hat. Ohne Parlament, ohne Gerichte, ohne Widerrede – und schnell. Weit über eine Milliarde Euro nahm er den Gemeinden weg, vor allem solchen, in denen seine Gegner regieren. Dazu führte er Gratis-Parkplätze ein, die den Gemeinden noch mehr Verluste bescherten – sie verdienten nichts mehr an parkierten Autos.

Lehrern und Lehrerinnen – sie arbeiten viel und verdienen wenig in Ungarn – verbot die Regierung das Streiken. Journalistinnen und Journalisten verbot Viktor Orban das Betreten von Spitälern. Damit niemand sehen konnte, was dort alles schieflief in Corona-Zeiten.

Wozu lange fackeln, wozu auf Gerichtsurteile warten, wozu Leuten zuhören, die anderer Meinung sind? Wozu all das, wenn man, wie Ungarns Regierungschef Viktor Orban, stattdessen im Dauernotstand regieren kann.

Sarah Nowotny

Osteuropa-Korrespondentin

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Sarah Nowotny ist Osteuropa-Korrespondentin für SRF. Sie lebt in der polnischen Hauptstadt Warschau. Seit 2014 ist Nowotny bei Radio SRF tätig. Zuvor arbeitete sie für die «NZZ am Sonntag» und «Der Bund».

 

Echo der Zeit, 25.05.2022, 18 Uhr

Meistgelesene Artikel