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Palästinenser im Libanon Raketen auf Israel – und Zweifel in den Flüchtlingslagern

Im Libanon leben Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge. Der Raketenbeschuss auf Israel spaltet die Vertriebenen.

Mit grossen Lautsprechern, montiert auf schwarzen Jeeps, fährt eine Gruppe junger Palästinenser auf. Auf einem zentralen Platz in der nordlibanesischen Stadt Tripoli halten sie eine Kundgebung ab. Die Schaulustigen schwenken Palästinenserfähnchen und hören den Tiraden des Redners mit dem Mikrofon zu.

«Jede Attacke auf die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, jede Attacke auf unsere Brüder und Schwestern im Westjordanland oder im Gazastreifen wird mit Bombenhagel von Libanon aus vergolten!», schreit der Mann ins Publikum und erntet dort viel Zustimmung.

«Der Widerstand lebt»

Unter ihnen ist auch der gut 20-jährige Hassan, das Palästinensertuch fein säuberlich um seine Schultern gelegt: «Die Raketen sind ein Zeichen an die Menschen im Westjordanland und in Gaza, dass der palästinensische Widerstand noch lebt.» Der junge Mann ist aufgebracht und prophezeit, ein Krieg werde bald kommen. Sie würden in Jerusalem einmarschieren, es befreien, ist er überzeugt. 

Wie Hassan denken viele Palästinenser im Libanon – doch längst nicht alle. Im Flüchtlingslager Bourj el Barajneh in Beirut leben über 30'000 Palästinenser. Kinder spielen in den engen Gässchen. Spielplätze gibt es nicht, denn der Platz ist knapp.

Flüchtlingslager Bourj el Barajneh
Legende: Das Flüchtlingslager Bourj el Barajneh war 1949 für einen Drittel so viele Menschen gebaut worden, wie heute hier leben. Der Libanon erlaubt es den Flüchtlingen nicht, ausserhalb der Lager zu wohnen. Also wurden die Häuser hier immer höher aufgestockt, es dringt kaum Licht in die Gässchen. Thomas Gutersohn/SRF

Akram Daher ist hier aufgewachsen. Er ist dezidiert gegen den Raketenbeschuss auf Israel: Die Palästinenser seien Gäste im Libanon und sie könnten nicht einfach von hier aus Raketen abfeuern. Denn Israel würde ebenfalls mit Raketen antworten und wenn israelische Raketen auf libanesisches Gebiet fallen, bringe das die Libanesen gegen die Palästinenser hier auf.

Nicht nur die libanesischen, alle arabischen Führer haben die Palästinenser im Stich gelassen, sogar die Palästinenserführung selbst.
Autor: Akram Daher Palästinenser im Flüchtlingslager Bourj el Barajneh

Dennoch ist der ebenfalls gut 20-jährige Akram voll und ganz für die palästinensische Sache, einfach mit anderen Mitteln: Kampagnen etwa über Social Media, Fundraising oder Demonstrationen – dies sei besser, als Raketen auf Israel abzufeuern.

Kinder im Flüchtlingslager  Flüchtlingslager Bourj el Barajneh
Legende: Seit Generationen leben palästinensische Flüchtlinge im Libanon. Viele kennen die Heimat ihrer Ahnen nur aus Erzählungen. Thomas Gutersohn/SRF

«Wenn aber Libanon die Grenze nach Israel öffnen würde, wäre ich an vorderster Front mit dabei», sagt Akram im Wissen darum, dass dies wohl nie passieren wird. Von der Politik ist er enttäuscht. «Nicht nur die libanesischen, alle arabischen Führer haben die Palästinenser im Stich gelassen, sogar die Palästinenserführung selbst», sagt der junge Mann frustriert. Alle sagten, sie würden Palästina unterstützen, doch das seien nur leere Worte.

Die Angst vor Israels Reaktion

Ähnlich sehen das Nawar, Fatima und Nasra. Die drei Frauen leben etwas weiter im Süden, im Lager Ain al-Hilweh in Saida (Sidon). «Als wir von den Raketen auf israelisches Gebiet hörten, ging ein Aufschrei durch unser Flüchtlingslager», sagt die 73-jährige Nasra. Es flüchteten alle in ihre Häuser, selbst das Gebet in der Moschee wurde ausgesetzt. «Wir fürchteten uns vor der Reaktion Israels.»

Kämpfer inspiziert Überreste eines zerstörten Gebäude im Flüchtlingslager, 2006.
Legende: Bereits 2006 wurde das Lager von israelischen Raketen getroffen in einem gut einen Monat andauernden Krieg zwischen der im Süden Libanons stark vertretenen Hisbollah und der israelischen Armee. Reuters/Ali Hoshishe (Archiv)

Drohungen, wie jene von Hasan an der Kundgebung in Tripoli, dass sie bald alle in Israel einmarschieren werden, unterstützt sie nicht, und die jüngere Fatima stimmt ihr zu.

Einzig die 40-jährige Nasra findet, dass für den Staat Palästina alle Mittel recht seien. Sie würde selbst ihre Kinder als Märtyrer opfern wollen, um die palästinensischen Gebiete zu befreien, wie sie sagt. Dies löst eine hitzige Diskussion unter den Frauen am Tisch über Sinn und Zweck des Beschusses aus.

Die Debatte zeigt: In der Sache sind sich alle einig. Sie wollen, dass die palästinensischen Gebiete von Israel befreit werden. Wie das erreicht werden soll, darüber scheiden sich unter den Flüchtlingen im Libanon die Geister.

Rendez-vous, 23.05.2023, 12:30 Uhr

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