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Pflegesystem «Buurtzorg» Revolutionieren die Niederländer die Spitex?

Wie und von wem wollen wir im Alter gepflegt werden? Die Niederlande haben einen Ansatz gefunden, der sich aber nicht 1:1 übertragen lässt.

Was bedeutet «Buurtzorg»? «Buurt» heisst Nachbarschaft und «Zorg» Pflege. Der Begriff steht für den niederländischen ambulanten Pflegedienst. Dahinter verbirgt sich eine neuartige, preisgekrönte Pflegephilosophie, die mittlerweile weltweit Nachahmer findet. Auch in der Schweiz interessiert man sich für das Modell, bei dem kleine, selbstorganisierte Teams für Betagte sorgen – im Idealfall mithilfe von Nachbarn, Freunden und Angehörigen.

Was ist daran besonders? «Buurtzorg» kennt keine Hierarchiestufen. Es gibt praktisch keine Manager; die Teams funktionieren autonom. Dadurch sind sie effizienter und die Pflegenden haben mehr Zeit für ihre Klienten. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die eingesetzte Software. Sie erleichtert die Administration.

Wie genau funktioniert das? SRF-Korrespondentin Elsbeth Gugger hat einen Pflegefachmann in Amsterdam einen Tag lang begleitet. «Wir waren bei einer älteren Frau mit einer Wunde, die täglich gereinigt und neu verbunden werden musste.» Der Pfleger habe danach sein iPad gezückt, einige Male über den Schirm gewischt, und schon habe das Programm gewusst, was er gerade erledigt hatte. «Dann musste er noch neues Verbandsmaterial bestellen.»

Die Person hinter «Buurtzorg»

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Jos de Blok
Legende: www.buurtzorg.com

Die Organisation «Buurtzorg» wurde 2006 von Jos de Blok gegründet, einem ehemaligen Pfleger. Er war genervt von der aufgeblähten Verwaltung, den unzähligen Managern und dem riesigen Papierkram und wollte zurück zu einer menschlichen Altenbetreuung. Ihm schwebte eine schlanke Organisation mit viel Eigenverantwortung für das Pflegepersonal vor.

Inzwischen zählt «Buurtzorg» in den Niederlanden 900 Teams aus 10-15 Personen. Insgesamt sind es etwas mehr als 14'000 Pflegende.

Die Verwaltung macht nur gerade acht Prozent aller Stellen aus – viel weniger als bei herkömmlichen Spitex-Organisationen. Dort ist ungefähr ein Viertel aller Angestellten nicht in der Pflege tätig, sondern in der Administration.

Das Ganze habe nicht mehr als zwei Minuten gedauert. Dafür habe der Pfleger danach noch Zeit gehabt, um mit der Frau eine Tasse Kaffee zu trinken. Zum Vergleich: «In der Schweiz muss eine Spitex-Angestellte nach jedem Besuch einen kurzen Rapport schreiben», weiss Gugger. «Das dauert mindestens fünf Minuten.» Viel Zeit für eine Tasse Kaffee bleibe da nicht.

Sind andere Fähigkeiten gefragt? Das System verlangt viel Eigeninitiative vonseiten der Pflegfachpersonen. Sie müssen sich von A bis Z selber organisieren und zum Beispiel Büros für das Team anmieten. Trotzdem ist für sie das oberste Gebot dasselbe wie für alle anderen Spitex-Organisationen: die optimale Betreuung der Patienten. Und dank der kleinen Teams von zehn bis fünfzehn Personen kann, wenn nötig, recht schnell reagiert werden.

Nachbarschaftshilfe statt Altersheim

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In den Niederlanden gibt es keine Altersheime mehr. Sie wurden vor ein paar Jahren abgeschafft. Der Staat will damit erreichen, dass Seniorinnen und Senioren so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden bleiben. Nur wer wirklich pflegebedürftig ist und vom Hausarzt ein entsprechendes Attest bekommt, kann in ein Pflegeheim eingewiesen werden.

Viele ältere Menschen ohne ein solches Attest brauchen trotzdem Hilfe, etwa beim Einkaufen, in finanziellen Angelegenheiten oder beim Gang zum Arzt. Häufig übernimmt jemand aus der Familie oder der Nachbarschaft diese Aufgaben – unentgeltlich.

Wenn sich jemand bei «Buurtzorg» anmeldet, macht sich das Team ein Gesamtbild des Umfelds der betreffenden Person. Wenn keine Familie, Nachbarn oder Freunde zu finden sind, hilft «Buurtzorg» bei der Suche nach Fachkräften, die beim Putzen, Ankleiden oder Einkaufen helfen.

Das Team entscheidet selber, wie viele Menschen es betreuen will oder kann. Hinzu kommt, dass bei jeder neuen Anmeldung zuerst umfassend untersucht wird, was für eine ganzheitliche Betreuung nötig ist. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich «Buurtzorg» von herkömmlichen Spitex-Organisationen.

Wie steht es um «Buurtzorg» in der Schweiz? In einigen Regionen wird bereits mit dem niederländischen System experimentiert. Zum Teil sei man hierzulande aber noch skeptisch, so SRF-Korrespondentin Gugger.

Elsbeth Gugger

Niederlande-Korrespondentin, SRF

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Die Journalistin arbeitet seit 1992 als Korrespondentin aus den Niederlanden für SRF und «NZZ am Sonntag». Vorher war sie bei der Schweizerischen Depeschenagentur tätig.

«Es gibt Pflegende, die nicht so viel Verantwortung übernehmen wollen und lieber von ihrem Chef hören, was zu tun ist.» Zudem gebe es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Niederlanden und der Schweiz: In den Niederlanden wurde «Buurtzorg» aus dem Nichts auf die Beine gestellt. Die Spitex-Organisationen in der Schweiz verfügen aber bereits über eine entsprechende Struktur. Bei einer Umstellung des Systems müsste eine ganze Reihe von Angestellten entlassen oder vorzeitig pensioniert werden.

In welchen Ländern gibt es «Buurtzorg»? In Deutschland seien bereits Teams im Einsatz, die das System mehr oder weniger adaptiert hätten, teilt der «Buurtzorg»-Hauptsitz mit. Gleiches gelte für Schweden und Grossbritannien. Laut einer Sprecherin laufen Gespräche in Russland. Und auch in Asien gebe es «Buurtzorg»-Teams – etwa in Japan, Taiwan, China und Indien.

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