Die Wallfahrt nach Mekka – der Hadsch – ist wegen Corona diesmal praktisch abgesagt. Das habe Auswirkungen in der ganzen islamischen Welt, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze.
SRF News: Was bedeutet eine Wallfahrt im Kleinformat für Saudi-Arabien?
Reinhard Schulze: In erster Linie ist das ein Verlust an Prestige. Saudi-Arabien galt bislang als Land, das jede Krise bewältigen und den muslimischen Bürgern der Welt die Pilgerfahrt in jedem Fall zur Verfügung stellen kann. Saudi-Arabien versuchte zwar, die Krise zu managen. Doch in der arabischen Welt wurde etwa mit Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen, dass nur saudische Bürger zum Hadsch zugelassen sind.
Wie wichtig ist Saudi-Arabien noch für die Muslime in aller Welt?
Saudi-Arabien verliert zunehmend seine Hegemonie-Stellung über den Islam. Das Land beginnt sich zu de-islamisieren. Die Herrschaftsordnung wird immer stärker auf die Prinzen ausgerichtet.
Saudi-Arabien beginnt sich zu de-islamisieren.
Die alte religiöse Ordnung, die das Land bislang mitbestimmt hatte, wird in den Hintergrund gerückt. Deshalb wird Saudi-Arabien nicht mehr als das führende islamische Land wahrgenommen wie noch vor 15 Jahren.
Die Geistlichen haben immer weniger zu sagen, was sich in Corona-Zeiten noch zusätzlich manifestiert?
Bislang hatten die wahhabitischen Gelehrten in Saudi-Arabien auch die Hoheit über die Pilgerfahrt: Sie bestimmten, wann ein Ritual Gültigkeit hat.
Die Gelehrten müssen also einfach nachvollziehen, was der Staat erlässt.
Jetzt aber wird vom Staat etwa vorgeschrieben, dass bei der Pilgerfahrt ein Mundschutz zu tragen sei – etwas, das in der Ritualordnung nicht vorgesehen ist. Die Gelehrten müssen also einfach nachvollziehen, was der Staat erlässt. Damit verlieren die Gelehrten weiter an Macht und Ansehen.
Beobachten Sie diesen Machtverlust nur in Saudi-Arabien oder auch anderswo?
Auch in Ägypten, Sudan oder anderen Ländern ist dieser Machtverlust im Gange. Es wird deutlich, dass die Zeit vorbei ist, an der die alten, islamischen Institutionen an der Macht beteiligt waren. In der islamischen Welt ist eine Entislamisierung der politischen Macht im Gange – weniger in der Türkei oder in Iran. Doch man bemerkt dies deutlich in den Emiraten, Kuwait oder in Saudi-Arabien.
Wie nachhaltig ist diese Machtverschiebung?
Das ist schwierig abzuschätzen. Der Protest unter den Gelehrten ist relativ gering. Es entsteht eher der Eindruck, dass eine gewisse Arbeitsteilung stattfindet: Der Staat verlangt von den islamischen Institutionen, sich jeglicher politischer Interventionen zu enthalten.
Der Staat ist nicht islamisch legitimiert, doch er fördert weiter Moscheen und religiöse Institutionen.
Im Gegenzug erhalten sie eine Art moralische Aufrüstung in der Gesellschaft. Es könnte also auf eine zweiteilige Ordnung hinauslaufen: Der Staat ist nicht islamisch legitimiert, doch in der Gesellschaft werden Moscheen und religiöse Institutionen weiter gefördert.
Was bedeutet diese Entwicklung für den gläubigen Muslim?
Das gläubige Individuum wird sich an die neuen Verhältnisse gewöhnen müssen. Es stellt sich etwa die Frage, welche Rituale in Corona-Zeiten noch möglich sind. So sitzt man beim Freitagsgebet etwa nicht mehr so nah beieinander wie früher. Auch das Berühren von rituellen Gegenständen ist nicht mehr möglich. Dinge, die zum Selbstverständnis eines Pilgers gehörten, entfallen jetzt. Wegen Corona ist ein Umdenken nötig, das weit über jenes in anderen Religionsgemeinschaften hinausgeht, in denen man beispielsweise nur zusammen sitzt und singt.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.