Zum Inhalt springen

Polen-Debatte im EU-Parlament Die polnische Regierung hat keinen Plan

Die Rede des polnischen Regierungschefs Mateusz Morawiecki vor dem Europäischen Parlament war alles andere als überzeugend. Die Form stimmte nicht, der Inhalt fehlte. Wer fünf Minuten Redezeit erhält, aber mehr als 30 Minuten eintönig spricht, lässt den Respekt vor demokratisch gewählten Volksvertretern vermissen.

Im EU-Parlament überraschte das nicht. Die Bemerkung des Vorsitzenden war daher treffend, dass dieser Formfehler eine klare Aussage sei, nämlich Ausdruck von Respektlosigkeit.

Kein Thema: der polnische Rechtsstaat

Doch die Form ist letztlich zweitrangig. Leider konnte auch der Inhalt der Rede Morawieckis nicht überzeugen. Zur Erinnerung: Es war der polnische Regierungschef, der darum gebeten hatte, sich vor dem EU-Parlament zu erklären.

Das Thema war gesetzt: Es ging nicht um Polen, sondern zur Diskussion stand der polnische Rechtsstaat, der in Gefahr ist. Morawiecki sprach nicht zu diesem Thema. Er zählte ausufernd alle Krisen auf, die er auf die Europäische Union zukommen sieht: die Energiekrise, die Migrationskrise und die Klimakrise. Von der Gefahr, dass sich mehrere EU-Mitglieder – auch Polen – nicht mehr an zentrale Grundwerte der EU gebunden fühlen, war nicht die Rede.

«Europa à la Carte»?

Der polnische Ministerpräsident warf der EU vor, ständig ihre Kompetenzen zu überschreiten. Der Europäische Gerichtshof habe nur ein Ziel, nämlich seine Macht auszuweiten. Dagegen müsse sich Polen zur Wehr setzen, um die polnische Verfassung zu schützen.

Der langen Rede einziger Sinn war es, darzulegen, welche Europäische Union die polnische Regierung sich eigentlich wünschte: Einen losen Bund von Staaten, die sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner organisieren. Der kleinste gemeinsame Nenner ist der gemeinsame europäische Binnenmarkt. Das ist «Europa à la Carte».

Weder Staatenbund noch Bundesstaat

Dieses Gegenprojekt zur Europäischen Union hatten einmal zahlreiche europäische Staaten favorisiert. Grossbritannien gehörte dazu und auch die Schweiz. Seither sind 60 Jahre verstrichen. Die EU hat eine andere Richtung eingeschlagen. Sie ist heute weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat, sondern ein politisches Gebilde eigener Prägung.

Dieses Gebilde hält einigermassen zusammen, weil sich alle Mitglieder verpflichten, gemeinsam vereinbarte Regeln zu respektieren und interne Konflikte nach denselben Regeln zu lösen. Die polnische Regierung hat in den letzten Jahren offenbart, dass sie diesen Konsens nicht mehr mittragen will.

Polinnen und Polen müssen entscheiden

Der Wunsch nach einen «Europa à la Carte» ist legitim. Ministerpräsident Morawiecki hätte heute erklären können, wie er sein Ziel erreichen will. Es zeigte sich aber, dass die polnische Regierung keinen Plan hat.

Nun müssen die Bürgerinnen und Bürger Polens wählen, wie sich ihr Land politisch ausrichten soll. Bis dahin tut die EU-Kommission gut daran, an Polen kein Geld aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu überweisen. Es fehlt die Garantie, dass dieses rechtmässig eingesetzt wird.

Charles Liebherr

EU-Korrespondent

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Charles Liebherr ist EU-Korrespondent von Radio SRF. Davor war er unter anderem in der SRF-Wirtschaftsredaktion tätig, später war er Frankreich-Korrespondent. Liebherr studierte in Basel und Lausanne Geschichte, deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Politologie.

Echo der Zeit, 19.10.2021, 18:00 Uhr

Meistgelesene Artikel