Frankreichs Regierung ist am Ende, das Parlament blockiert, die Schulden sind erdrückend. Die Politikwissenschaftlerin Hélène Miard-Delacroix sagt, wie es jetzt weitergehen soll in Paris und warum Präsident Macron nun ausgerechnet auf die Linke setzen könnte.
SRF News: Wie nehmen Sie das Land wahr?
Hélène Miard-Delacroix: Die Menschen sind sich bewusst, dass die Politik handeln muss. Das Land hat über drei Billionen Euro Schulden. Das führt zu unterschiedlichen Emotionen: Empörung bei jenen, die sagen, sie hätten von dem Geld nichts gesehen. Bestürzung und Scham darüber, dass wir nicht imstande sind, unseren Haushalt in Ordnung zu bringen. Und drittens Angst vor dem, was jetzt kommt.
Der Druck auf Präsident Macron wächst, seine Gegner fordern seinen Rücktritt. Kann er sich halten?
Ja, definitiv. Es sind noch 18 Monate bis zur nächsten Präsidentschaftswahl. Institutionell und auch von seiner Persönlichkeit her ist es schwer vorstellbar, dass er vorzeitig zurücktritt. Aber er ist zur Zielscheibe für jegliche Unzufriedenheit geworden. Wenn es nicht gut geht, ist der Präsident der Verantwortliche für alles.
Wie geht es jetzt weiter in einem Parlament, das in drei verfeindete Lager zerfallen ist? Die Situation scheint blockiert.
Das ist das Dramatische. Das französische System ist für zwei Lager gemacht, links und rechts. Ein System mit drei Blöcken, die sich feindlich gegenüberstehen, kann nur funktionieren, wenn Kompromisse eingegangen werden. Genau das passiert aber nicht, aus Angst, vor den eigenen Wählern das Gesicht zu verlieren.
Welche Möglichkeiten hat Macron, um einen neuen Premierminister zu ernennen?
Er kann nun das tun, was er schon vor einem Jahr hätte tun sollen: Eine Persönlichkeit aus dem linken Block mit der Regierungsbildung beauftragen. Dieser Block hat die meisten Stimmen, wenn auch keine Mehrheit.
Das Tragische an der Politik ist, dass die Gewählten immer kurzfristig denken.
Warum ist das jetzt eine Option und war es vor einem Jahr noch nicht?
Letztes Jahr war der linke Block noch sehr stark von den Linksradikalen um Jean-Luc Mélenchon geprägt. Macron schien es unmöglich, so extremen Politikern die Verantwortung zu übergeben. Inzwischen haben sich die gemässigten Sozialisten von diesem radikalen Rand distanziert und sind mehr in die Mitte gerückt. Das eröffnet die Möglichkeit für eine Koalition mit dem Zentrum.
Droht Frankreich in eine noch tiefere Krise zu rutschen?
Das Tragische an der Politik ist, dass die Gewählten immer kurzfristig denken, an ihre Wiederwahl. Wenn dieser Reflex anhält, wird Frankreich eine langwierige Krise erleben. Wenn die Abgeordneten sich aber zusammenraffen, ihre persönlichen Ambitionen zurückstellen und an das Wohl des Landes denken, dann sind sie imstande, eine Koalition zu bilden und Kompromisse einzugehen. Dann kann sich das Land aus dieser schwierigen Situation selbst befreien.
Das Gespräch führte David Karasek.