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Politische Justiz in Russland Bestraft, weil er Stalins Opfer suchte?

«Gewaltsame Handlungen mit sexuellem Charakter» soll Jurij Dmitriev begangen haben. Das Opfer: seine minderjährige Pflegetochter. Ein Gericht im nordrussischen Karelien verurteilte den Historiker zu dreieinhalb Jahren Gefängnis. Da aber die jahrelange Untersuchungshaft angerechnet wird, kommt Dmitriev bereits im Herbst frei.

Der Prozess sagt viel aus über den Zustand von Russlands Rechtssystem. Und auch darüber, wie der Staat gegen unbequeme Bürger vorgeht. So gibt es erhebliche Zweifel an Dmitrievs Schuld: Gegen den Historiker liegt zwar eine Zeugenaussage der Pflegetochter vor – allerdings vermuten Experten, dass das Kind von den Ermittlern massiv unter Druck gesetzt wurde.

Viele sind von Dmitrievs Unschuld überzeugt

Viele russische Intellektuelle jedenfalls sind von der Unschuld des Historikers überzeugt: Schriftstellerinnen, Regisseure und liberale Politiker setzten sich für ihn ein. Und viele vermuten ein politisches Motiv hinter dem Prozess. Dmitriev hat jahrelang für die Menschenrechtsorganisation Memorial gearbeitet; er suchte in den Wäldern seiner karelischen Heimat nach Überresten von sowjetischen Gefangenenlagern. Und er fand die Lager, mitsamt Massengräbern, in denen die Überreste jener liegen, die von den Kommunisten ermordet wurden.

Diese Arbeit hat Dmitriev viele Feinde gebracht: Russlands Geheimdienste werden nicht gerne an ihre Verbrechen erinnert. Wurde Dmitriev deswegen abgestraft? Im Detail lässt sich das nicht nachweisen. Aber es wäre nicht der einzige Prozess gegen einen aktiven, unbequemen Bürger.

Auch der bekannte Regisseur Kiril Serebrennikov stand vor Gericht. Die Anklage bei ihm: ebenfalls zweifelhaft. Er soll staatliche Gelder hinterzogen haben. Oder die Journalistin Svetlana Prokopjewa: Sie wurde wegen angeblicher «Rechtfertigung von Terrorismus» verurteilt.

Das Vertrauen in die Justiz ist weg

In Russland ist es inzwischen üblich geworden, Gerichtsurteile zu interpretieren. Die kritische Öffentlichkeit hat das Vertrauen in die Justiz verloren. Wird einer verurteilt, glauben viele nicht mehr, dass der Grund für die Strafe im Urteil steht. Man muss diesen Grund erraten: Dmitriev wird wohl bestraft, weil er Stalins Opfer suchte. Der Regisseur Serebrennikov, weil er zu freche Stücke inszenierte. Journalistin Prokopjewa, weil sie in einer Radiosendung ihre Meinung zu prägnant formulierte.

Jedes Urteil wird so zur Botschaft des Staates an die Gesellschaft. Eine Botschaft, die man deuten muss. Was ist noch erlaubt? Wo beginnen die Probleme?

Was bedeuten die ungerechten, aber milden Urteile?

Das Urteil gegen Jurij Dmitriev ist milder ausgefallen als befürchtet. Der Historiker hat dreieinhalb Jahre bekommen statt fünfzehn, wie von der Anklage gefordert. Ähnlich war es beim Regisseur Serebrennikov: Statt sechs Jahre Gefängnis erhielt er eine bedingte Haftstrafe.

Was bedeuten diese zwar ungerechten, aber dann doch auch auf seltsame Art milden Urteile? Vielleicht will der Staat sagen: «Wir können auch härter, wenn wir wollen. Noch aber wollen wir nicht.»

Echo der Zeit, 22.07.2020, 18 Uhr

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