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Proteste gegen Corona-Politik Die Corona-Demo in Berlin zu erlauben, war wirklichkeitsfremd

Die Empörung ist gross, die Rhetorik kraftvoll – leider erst im Nachhinein. Obwohl im Vorhinein glasklar war, was passieren würde. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, die Demonstration der Corona-Querdenker am Samstag zu bewilligen, war sicherlich mit dem juristischen Seziermesser perfekt begründet. Aber es war komplett wirklichkeitsfremd.

Jeder Mann und jede Frau wussten, dass die Demonstranten sich um die Auflagen der Behörden und ihr eigenes Hygienekonzept foutieren würden. Es war also klar, dass die Bedingungen für die Bewilligung dieser Demonstration nicht eingehalten werden würden.

Und das ist wichtig: Die deutsche Verfassung garantiert nicht nur die Versammlungsfreiheit, sondern bestimmt auch, dass sie durch Auflagen eingeschränkt werden kann.

Angriff auf Reichstag hingenommen

Und jedem war auch klar, dass 3000 Polizisten eine Demonstration von 30'000 nicht würden auflösen können. Zwar wurde die Demonstration am Nachmittag für aufgelöst erklärt. Aber – auch das ist sehr deutsch – das war nur auf dem Papier ein Erfolg und hatte nichts mit der Realität zu tun.

Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht daraus Konsequenzen gezogen und ein Protestcamp untersagt. Zitat: «Mit Blick auf die nunmehr vorliegenden Erfahrungen.»

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach nach dem Vordringen der Demonstranten bis vor die Türen des Reichstags von einem «unerträglichen Angriff auf das Herz unserer Demokratrie, den wir niemals hinnehmen werden». Hat er aber schon.

Fundament der Gesellschaft unterminiert

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärte, sie sei wütend: Das ist für Herrn Müller um die Ecke eine adäquate Reaktion, aber von einer führenden Politikerin, die Macht und Einfluss hat, wäre nicht Wut, sondern kühl kalkuliertes Handeln zu erwarten.

Am Ende war es nur der Polizist, der ohne Helm mit blanken Fäusten die Türen des Parlaments verteidigte, der die Ehre des Rechtsstaates gewahrt hat.

Nun weht heute Morgen ja nicht die Flagge des Kaiserreichs oder die Reichskriegsfahne auf dem Bundestag, sondern Schwarz-Rot-Gold und die Europafahne. Die Demonstranten sind bei weitem nicht die Mehrheit und die Demokratie nicht in Gefahr. «Keep cool», könnte man sagen.

Aber: Wer mit verrutschter Maske zum Bäcker geht, wird zusammengestaucht, wenn sich 30'000 Personen um alle Regeln foutieren, passiert nichts. Wenn die eigenen Regeln einer Gesellschaft nicht eingehalten und nicht durchgesetzt werden, unterminiert das längerfristig das Fundament dieser Gesellschaft. Das klingt nach Weihnachtspredigt, ist aber trotzdem wahr.

Peter Voegeli

Italien-Korrespondent

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Peter Voegeli ist seit Januar 2022 Italien-Korrespondent von Radio SRF. Von Rom aus hat er auch den Vatikan, Griechenland und Malta im Blick. Zwischen 2005 und 2011 berichtete er als USA-Korrespondent aus Washington DC. Danach war er während dreieinhalb Jahren Moderator von «Echo der Zeit» und von 2015 bis 2021 Deutschland-Korrespondent in Berlin. Von 1995 bis 2005 arbeitete der Historiker als Korrespondent für Schweizer Printmedien in Bonn und Berlin.

Tagesschau, 31.08.2020, 12:45 Uhr

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