Eine Demonstration gegen rechts in der AfD-Hochburg Grimma? Ursprünglich rechneten die Veranstalter mit 200 Teilnehmenden. Am Schluss sind es über 700, die letzten Sonntag auf den Marktplatz der ostdeutschen Kleinstadt nahe Leipzig strömen und trotz Regen ein Zeichen setzen gegen Ausländerhass – und gegen die AfD. «Ich habe einen Krieg erlebt», sagt eine 86-jährige Demonstrantin, «ich denke über vieles anders.» Eine andere meint knapp: «Ich bin hier, weil ich Anstand habe.»
Die Menschen in Grimma gehören zu den hunderttausenden Protestierenden, die am Wochenende deutschlandweit auf die Strasse gingen. Auslöser ist eine Recherche des Investigativ-Mediums «Correctiv»: AfD- und CDU-Mitglieder sollen bei einem Vortrag über «Remigration» , also die Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland, dabei gewesen sein.
Misstrauen gegenüber dem Staat
In Deutschland brodelt es schon länger: Anfang Januar protestieren die Bauern im ganzen Land. Eigentlich geht es um den Agrardiesel. Aber auch rechte Symbole tauchen auf – und sogar offene Demokratiefeindlichkeit: Ampeln baumeln am Galgen, gehängt stellvertretend für die Bundesregierung.
Beim Gespräch mit den Bewohnern von Grimma wird schnell deutlich, wie misstrauisch auch hier die Bevölkerung gegenüber der Regierung geworden ist. Eine Frau meint, sie werde nächstes Jahr die AfD wählen: «Die tun etwas für das deutsche Volk.» Ein Mann vor dem Rathaus behauptet, die Demonstranten seien vom Staat bestellt und würden dafür bezahlt. Für die Jugend werde nichts gemacht, sie lungere nur herum.
Die Rundschau besucht den AfD-Abgeordneten Jörg Dornau in seinem sogenannten «Bürgerbüro» – einer Anlaufstelle für Leute, die Kontakt zur Partei suchen. «Deutschland ist nicht ein Land im Stillstand, sondern im Rückwärtsgang», sagt Dornau. «Die rot-grüne Regierung hat das noch beflügelt in den letzten beiden Jahren.»
In Sachsen sind im Herbst Landtagswahlen. Gemäss Umfragen liegt die AfD bei 35 Prozent. Sie wäre damit die stärkste Partei in Sachsen.
Gespaltene Gesellschaft
In Grimma formiert sich neben den Linken auch eine Gruppe von rund hundert Rechten und Rechtsextremen. Einige schreien: «Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen.» Die Polizei muss beide Gruppierungen trennen. Ein Helikopter kreist über dem Platz. Ein Zuschauer kann darüber nur den Kopf schütteln: «Es gibt immer Spaltung in der Gesellschaft», sagt er.
Diese Spaltung habe in Deutschland bereits während der Corona-Pandemie begonnen und sich mit Russlands Invasion in der Ukraine verstärkt, sagt Paul Seger. Er war bis letztes Jahr Schweizer Botschafter in Berlin. Viele Ostdeutsche fühlten sich als Bürger zweiter Klasse und von traditionellen Parteien immer weniger vertreten. Das führe zu Spannungen: «In der Schweiz ist die direkte Demokratie ein Ventil. Dieses Ventil aber gibt es in Deutschland nicht und das äussert sich in diesen Protestbewegungen.» Er habe bereits letzten Sommer einen Bericht nach Bern geschickt unter dem Titel «AfD - Albtraum für Deutschland».
Für Seger wäre ein Verbot der AfD, wie es gewisse Demonstranten fordern, aber nicht zielführend: «Deutschland ist stark genug, die AfD mit politischen Argumenten zu bekämpfen. Ein Verbot wäre ein Zeichen politischer Schwäche.»