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Proteste gegen Justizreform Israels protestierende Armeereserve sorgt für neue Eskalation

Die israelische Bevölkerung protestiert gegen eine Justizreform. Nun wollen Militärangehörige den Dienst verweigern.

Die massiven Proteste gegen die Justizreform der israelischen Regierung halten seit ungefähr zwei Monaten an. Der Widerstand aus der Bevölkerung hat sich mittlerweile auf die Armee ausgeweitet: Hunderte Eliteoffiziere aus der Militärreserve kündigten an, sich ab Sonntag nicht mehr zum Dienst zu melden.

«Wir fürchten, dass es einen Verstoss gegen unseren Eid, unser Gewissen und unseren Auftrag wäre, Militärbefehlen nachzukommen», schrieben Offiziere in einem offenen Brief zur Begründung ihres Protests.

Worum geht es bei der geplanten Justizreform?

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Die Menschen halten während einer Demonstration Israel-Flaggen.
Legende: Die Protestbewegung ist eine der grössten in der Geschichte Israels und umfasst breite Gesellschaftsteile. Reuters/Ronen Zvulun

Im Mittelpunkt der Reform steht das Verfahren zur Auswahl der Richter. Die Regierung will ihren Einfluss dabei stärken und die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs einschränken. Dem Parlament soll es künftig also möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufzuheben. Die Regierung Israels begründet dies mit dem Vorwurf, Richter hätten sich in die Politik eingemischt. Kritiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr und warnen vor einer gefährlichen Staatskrise.

Nach den massiven Protesten hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Abschwächung der geplanten Justizreform angekündigt. Am Montag erklärten Netanjahu und seine religiös-nationalistischen Koalitionspartner, die meisten Vorhaben würden zurückgestellt, bis die Knesset am 30. April wieder zusammentritt.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu forderte die Militärführung auf, den Protest der Reservisten zu unterbinden: «Ich erwarte vom Generalstabschef und den Leitern der Abteilungen der Sicherheitsabteilungen, aggressiv die Dienstverweigerung zu bekämpfen.»

Dass nun Militärdienst verweigert wird, zeige, wie tief die Gräben sind, die Netanjahus Minister aufgerissen haben, sagt SRF-Auslandredaktorin Susanne Brunner. Israel hat eine Milizarmee: Männer müssen knapp drei Jahre, Frauen knapp zwei ins Militär: «Das Militär ist für Israelis eine einende und überlebenswichtige Institution. Nun haben die wochenlangen Proteste Israels Armee und Luftwaffe erreicht.»

Armeeführung hält sich zurück

Die Militärführung zögert derweil, etwas gegen die protestierenden Reservisten zu unternehmen. «Die Armeeführung befürchtet noch mehr Proteste, wenn sie harte Massnahmen gegen Reservesoldatinnen und -piloten ergreifen würde», erklärt die ehemalige Nahostkorrespondentin Brunner. Die israelischen Streitkräfte sind auf die Reservetruppen angewiesen.

Angehörige der israelischen Armee stehen neben einem Militärfahrzeug.
Legende: Die Reservetruppen haben ihren obligatorischen Militärdienst geleistet. Sie springen in Notfällen ein, die laut Susanne Brunner auch ständig vorkommen. Reuters/Mussa Qawasma

Die Justizreform und die Proteste haben Sprengkraft, sie könnten die Armee zerreissen. Das habe gar Netanjahus Verteidigungsminister erkannt. «Er hat mit seinem Rücktritt gedroht, sollte Netanjahu seine radikale Justizreform so kompromisslos vorantreiben», so Brunner. Der israelische Premier hat darauf eine Abschwächung der Justizreform angekündigt.

Offen bleibt die Frage, ob die radikalsten Minister auf einen Kompromiss einsteigen werden. Einen Kompromissvorschlag des israelischen Präsidenten Isaac Herzog haben sie bereits abgelehnt.

«Fraglich ist, ob Netanjahu als Premier seine Regierung überhaupt im Griff hat – oder sie ihn, wie Armeeveteranen kürzlich behaupteten. Sie stellten Netanjahu in einer Protestaktion als Geisel der extremen Rechten dar», so Brunner.

Menschen protestieren gegen die geplante Justizreform in Israel.
Legende: Mit dem Protest der Militärreserve erreicht dieser Streit eine neue Eskalationsstufe. Keystone/AP/Ohad Zwigenberg

Dem Land könnte eine hässliche Zerreissprobe drohen. Der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz warnte gar vor der Gefahr, in Richtung Bürgerkrieg zu gleiten.

«Würde die Regierung ihre kompromisslose Version der Justizreform durchboxen, dann würde die Opposition ans Höchste Gericht gelangen. Dieses würde die Justizreform für illegal erklären. Nur: Gemäss der Justizreform hätte das Gericht nicht das letzte Wort. Dann müssten sich die Sicherheitskräfte und die Armee zwischen der Regierung und dem Höchsten Gericht entscheiden. Sie müssten entscheiden, wem sie in einem solchen Fall Folge leisten würden», erläutert die Auslandkorrespondentin.

Es könnte also passieren, dass sich ein Teil der Armee auf die Seite des Höchsten Gerichts und ein anderer auf die der Regierung schlagen würde. «Das wäre eine echte Zerreissprobe, die zu erwarten ist», sagt Brunner. Denn die Proteste gehen mitten durch die Armee, die eigentlich aus der Zivilbevölkerung besteht.

Israelisches Parlament erlaubt Rückkehr in jüdische Siedlungen

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Das israelische Parlament hob am Dienstag ein Gesetz aus dem Jahr 2005 auf, mit dem die Räumung von vier jüdischen Siedlungen im Westjordanland angeordnet worden war. Wenn das israelische Militär zustimmt, könnte Siedlern nun die Rückkehr in das Gebiet erlaubt werden. Die Entscheidung ist eine der ersten grossen Massnahmen von Ministerpräsident Benjamin Netanjahus nationalistisch-religiöser Koalition.

Im vergangenen Monat hatte die Regierung nach tödlichen palästinensischen Anschlägen in Ost-Jerusalem beschlossen, neun nicht genehmigte Siedlungsaussenposten im besetzten Westjordanland zu legalisieren. USA und EU zeigten sich darüber besorgt.

Israel eroberte während des Sechstagekrieges 1967 unter anderem das Westjordanland und Ost-Jerusalem. Knapp 600’000 Israelis leben dort heute in mehr als 200 Siedlungen. Der UN-Sicherheitsrat bezeichnete diese Siedlungen 2016 als Verletzung des internationalen Rechts. Er forderte Israel auf, alle Siedlungsaktivitäten zu stoppen. Die Palästinenser wollen im Westjordanland, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem einen eigenen Staat einrichten. (sda/rtr)

SRF 4 News, 21.03.2023, 07:17 Uhr ; 

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