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Proteste in Russland Putins Problemfeind

Es war gegen Mittag, als in Moskau der erste Mann festgenommen wurde. Er stand auf dem Puschkinplatz im Stadtzentrum und hielt ein Plakat in die Höhe. «Ich habe keine Angst», stand darauf. So etwas reicht schon, um in Russland von der Polizei abgeführt zu werden.

Die Geschichte dieses Mannes zeigt: Der Staat ist stark in Russland, er kann tun, was er will. Doch der Staat hat auch ein Problem: Er verliert an Glaubwürdigkeit.

Aber der Reihe nach: Russland ist heute von landesweiten Protesten erschüttert worden. Erst gingen sie in Wladiwostok auf die Strasse, ganz im Osten. Dann folgten – Zeitzone um Zeitzone – die Städte Sibiriens; Jekaterinburg im Ural; dann Moskau und St. Petersburg, die grossen Metropolen. Die Forderung war überall die gleiche: Freiheit für Alexej Nawalny, ein Ende der Repression, ein Ende der Korruption. «Russland wird frei sein», riefen die Menschen.

Image-Sieg für Nawalny

Wie viele es genau waren, lässt sich schwer sagen. Es müssen Zehntausende gewesen sein. In Moskau jedenfalls strömten am Nachmittag unablässig Menschen auf den Puschkinplatz. Viele Junge, manche mit ihren Eltern in Schlepptau. So eine grosse Protestveranstaltung hat die russische Hauptstadt schon lange nicht mehr gesehen.

Für Alexej Nawalny, der in Haft sitzt, ist dieser Tag ein grosser Image-Sieg. Er hatte in der letzten Woche alles auf eine Karte gesetzt. Erst kehrte er aus Deutschland – wo er sich von einem Giftanschlag erholt hatte – in die Heimat zurück und wurde prompt festgenommen. Dann veröffentlichte sein Team einen sensationellen Dok-Film.

Im Film «Ein Palast für Putin» wird der Vorwurf erhoben, der russische Präsident habe sich für umgerechnet über eine Milliarde Franken eine Residenz bauen lassen – finanziert durch kolossale Schmiergelder. Der Film ist ein riesiger Erfolg und wurde allein auf Youtube schon fast 70 Millionen Mal angeklickt.

Ein nicht überzeugendes Dementi

Das Video hat das System Putin unter Druck gesetzt. Wie reagieren, fragten sie sich in den Korridoren des Kremls. Der Präsidenten-Sprecher wischte die Vorwürfe schliesslich schnöde vom Tisch. Das sei alles totaler Unsinn, sagte er. Punkt.

Überzeugend ist das nicht. Wenn da nicht noch was kommt, werden die Vorwürfe am Präsidenten kleben bleiben. Putin, das ist dann der mit dem Milliardenpalast.

Auch sonst weiss der Apparat nicht, wie er mit Nawalny umgehen soll. Bei ihm wirkt jenes Mittel nicht, das bisher noch jeden Oppositionellen zum Schweigen gebracht hat: die Angst. Der unbeugsame Häftling lässt sich nicht einschüchtern. Er ruft noch aus der Haft zum Widerstand auf.

Der strafende Staat

Gehen dem Kreml die Argumente aus? Ja. Wankt Putins Macht deswegen? Wahrscheinlich nicht. Denn der russische Staat ist stark, funktioniert immer noch wie eine gut geölte Maschine. Mindestens 2000 Demonstrierende wurden allein heute festgenommen. Zudem verdichten sich die Gerüchte, dass die Justiz Nawalny hart, sehr hart bestrafen möchte. Der Oppositionelle könnte über zehn Jahre hinter Gittern verschwinden, heisst es in Moskau. Recht zu haben allein, bringt eben doch noch keinen Sieg.

Ein bisschen ist es wie mit dem Mann, der sich gegen Mittag mit seinem Plakat auf den Puschkinplatz stellte. Eine starke, eine rührende Geste. Abgeführt wurde er trotzdem.

Echo der Zeit, 23.01.2021, 18:00 Uhr

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