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Proteste in Ungarn «Das erste Mal, dass Linke und Jobbik kooperieren»

Erstmals überhaupt haben alle oppositionellen Parlamentsparteien gemeinsam demonstriert, sagt eine Expertin.

In Ungarn wird protestiert. Tausende Menschen sind in den vergangenen Tagen jeweils durch die Budapester Innenstadt gezogen, um gegen die Regierung des rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orban zu demonstrieren. Dabei ist die Mischung der Demonstranten besonders interessant, findet Journalistin Meret Baumann.

Meret Baumann

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Baumann ist seit 2013 Österreich- und Osteuropa-Korrespondentin der NZZ. Die studierte Juristin lebt in Wien.

SRF 4 News: Bei den Protesten kam es in den letzten Tagen immer wieder zu Zusammenstössen mit der Polizei. Wie war die Stimmung am Sonntag?

Meret Baumann: Am Sonntag haben erstmals überhaupt alle oppositionellen Parlamentsparteien gemeinsam zu einer Demonstration aufgerufen. Zudem sind an der Spitze des Zugs Vertreter von Gewerkschaften marschiert. Diese Breite hat sich auch bei den Teilnehmern gespiegelt. Bei den Protesten der vergangenen Tage vor dem Parlament hatten vor allem junge Menschen unter 35 Jahren teilgenommen.

Es ist sehr bemerkenswert, dass dieser Protest gemeinsam stattgefunden hat.

Es ist bemerkenswert, dass sich die linke und die rechte Opposition zusammengetan haben und gemeinsam protestieren. Das ist aussergewöhnlich für Ungarn.

Ja, das ist wirklich sehr aussergewöhnlich bei diesen Protesten. Es ist das erste Mal überhaupt, dass die Linke und die Rechtsaussenpartei Jobbik kooperieren. Dazu muss man wissen, dass Jobbik bis vor kurzem eine rechtsextreme, antisemitische Partei war, die sich erst in den letzten Jahren um Mässigung bemüht hat. Noch im Jahr 2014 hatte ein ungarisches Gericht entschieden, dass man Jobbik als neonazistisch bezeichnen darf. Unter anderem aus diesem Grund hat die Linke immer von sich selbst als der demokratischen Opposition gesprochen und Jobbik quasi die Legitimität abgesprochen. Deswegen ist es sehr bemerkenswert, dass dieser Protest jetzt gemeinsam stattgefunden hat.

Es geht um potenziell politisch heikle Fälle wie beispielsweise die Rechtmässigkeit von Polizeieinsätzen.

Es geht um ein neues Arbeitsgesetz und ein Gesetz für neue Verwaltungsgerichte – was genau stört die Opposition daran?

Beim Arbeitsgesetz geht es darum, dass künftig 400 statt wie bisher 250 Überstunden pro Jahr zulässig sein sollen. Und für die Abgeltung oder Ausbezahlung dieser Überzeit erhalten Arbeitgeber mehr Zeit. Das werden Arbeitnehmer natürlich ganz direkt spüren.

Bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist es ein bisschen abstrakter. Es geht darum, dass ein ganz neuer Zweig im Justizsystem eingeführt werden soll. Der Justizminister hätte breite Kompetenzen und würde über die Auswahl der Richter bestimmen. Diese Gerichte sollen über Verwaltungsverfahren entscheiden. Dabei geht es um potenziell politisch heikle Fälle wie beispielsweise Steuerangelegenheiten, die Rechtmässigkeit von Polizeieinsätzen oder auch die Zulässigkeit von Wahlen.

Was befürchten die Kritiker dieser neuen Gesetze?

Sie befürchten, dass mit diesem neuen Gerichtszweig die ordentliche Gerichtsbarkeit – die noch weitgehend unabhängig funktioniert – ausgehebelt, beziehungsweise umgangen werden soll. Man muss aber wissen, dass diese beiden Gesetze inzwischen nur noch der unmittelbare Auslöser für diese Protestwelle sind. Am Sonntag wurde auch die Korruption oder etwa die autoritären Tendenzen der Regierung beklagt – also es ist einiges zusammengekommen.

Welchen Verlauf könnte diese Protestbewegung noch nehmen?

Das ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig abzuschätzen. Vor allem auch, weil natürlich die Feiertage unmittelbar bevorstehen. Aber was schon spannend ist, ist die Zusammenarbeit der Opposition. Das ist eine neue Qualität und es wird sich zeigen müssen, wie nachhaltig diese sie ist. Denn ein Teil seiner grossen Mehrheit verdankt Orban der Tatsache, dass die Opposition bisher gespalten und auch vor Wahlen nicht zu einer Kooperation fähig war.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

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