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Protestwelle in Südamerika Das Ende der Geduld

Chile, Ecuador, Bolivien und weitere: Südamerika scheint aktuell ein einziges Pulverfass zu sein. Das sind die Gründe.

Heute ist Tag 27 der Proteste in Chile. Wieder werden Tausende auf die Strassen gehen, die meisten friedlich. Ausgeschossene Augen, Massenverhaftungen, Tote – die Protestierenden lassen sich auch von Polizeigewalt nicht abhalten. In Kolumbien steht bald ein Generalstreik an. In Ecuador, Peru und auch in Brasilien brodelt es. Das Nachbarland Bolivien scheint führungslos. Gewalttätige Mobs aus beiden politischen Lagern verbreiten Angst im Land.

Gegen soziale Ungleichheit und autoritäre Regime

Was macht die Menschen in Südamerika so wütend? Einerseits ist da die soziale Ungleichheit, etwa in Chile. Die Menschen wollen es nicht länger hinnehmen, dass sie in einem eigentlich reichen Land wohnen, in dem es trotz hoher Einnahmen durch Rohstoffverkäufe keinen sozialen Ausgleich gibt. Renten, Bildung und Gesundheit – alle Bereiche sind privatisiert. Statuen aus der Kolonialzeit werden geköpft – sie sind Symbole für Rassismus, Unterdrückung – und, eben, Ungleichheit.

Aber, die Proteste richten sich auch gegen jene, die zu viel Macht anhäufen. In Bolivien versuchte Evo Morales eine weitere Amtszeit zu erzwingen. Dass es am Ende das Militär war, das seinen Rücktritt einforderte, lässt nichts Gutes erahnen. Und wenn die Morales-Gegner nun mit der Bibel unter dem Arm in den Präsidentenpalast einmarschieren, ruft es alte Gespenster hervor. So wie der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano die Kolonialzeit einmal aus Sicht der Ureinwohner beschrieb: «Sie hatten die Bibel und wir hatten das Land. Sie sagten uns: Schliesst die Augen und betet! Als wir die Augen öffneten, hatten sie das Land und wir die Bibel.» Ethnische Konflikte und alte Ressentiments dürften wieder aufflammen.

Die junge Generation begehrt auf

Dass es in Südamerika derzeit so zahlreiche und grosse Proteste gibt, hat auch mit einem Erstarken der Zivilgesellschaft zu tun. In Bolivien gab es mit Evo Morales erstmals einen Präsidenten, der gegen die Diskriminierung von Indigenen ankämpfte und sie auch wirtschaftlich voran brachte. Das bedeutet nicht, dass heute alle hinter im stehen – aber, es ist ein neues Selbstbewusstsein zu spüren.

Ethnische Konflikte und alte Ressentiments dürften wieder aufflammen.

In Chile hat die junge Generation die Angst abgelegt, die ihre Eltern durch das Trauma der Pinochet-Diktatur bis heute verspüren. Überall im Land finden in diesen Tagen sogenannte «Cabildos» statt, Bürgerversammlungen, in denen die Menschen gemeinsam über ein gerechteres Chile nachdenken. Sie wollen mitreden in der Politik. Und wenn der Präsident nun zwar auf die Forderung nach einer neuen Verfassung eingeht, aber diese hinter verschlossenen Türen erstellen will, ist dies für die Protestierenden nicht annehmbar.

Am häufigsten ist derzeit bei den Protesten in Chile das Wort «Würde» zu hören: Würdige Löhne, würdige Renten, eine würdige Gesundheitsversorgung. Die Demonstrationen zeigen klar: Die Ungleichheit, die eine Gesellschaft bereit ist zu ertragen, hat ihre Grenzen. Dass das Fass überlief, etwa in Chile oder Ecuador, dazu haben die politischen Eliten beigetragen, die keine Verbindung mehr zu ihrem Volk haben. Aber auch Institutionen wie der Internationale Währungsfonds müssen die in verschuldeten Ländern eingeforderte Sparpolitik hinterfragen, die in einer ungleichen Gesellschaft das Leben für viele schlichtweg unerträglich macht. Im Hintergrund ist auch das Gespenst der Einflussnahme der USA – je nach Land mehr oder weniger deutlich zu erkennen, aber immer präsent.

Am häufigsten ist derzeit bei den Protesten in Chile das Wort «Würde» zu hören: Würdige Löhne, würdige Renten, eine würdige Gesundheitsversorgung.

Die Demokratie steht in einigen Ländern auf der Kippe. In Brasilien lobt Jair Bolsonaro die Militärdiktatur und in Umfragen sprechen sich nur noch 34 Prozent der Bürger für die Demokratie als beste Regierungsform aus. In Chile lässt Sebastián Piñera die Sicherheitskräfte wüten, als gäbe es keinen Präsidenten im Land. Und in Venezuela laufen Nicolás Maduro seine Bürger weg, aus bekannten Gründen. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass bis Ende Jahr fünf Millionen Menschen das Land verlassen haben werden. Es ist eine Flüchtlingskrise gigantischen Ausmasses, die sich in Südamerika abspielt und die international kaum wahrgenommen wird.

Der Lichtblick: Ausgerechnet Argentinien

Ausgerechnet der Blick in ein Land, das wirtschaftlich am Abgrund steht, lässt in diesen Tagen aufatmen: In Argentinien hat das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen eine trügerische Ruhe einkehren lassen. Trügerisch, weil das Land kurz vor dem Staatsbankrott steht, die Inflation weiter galoppiert und Nahrungsmittelnotstand herrscht. Es müssen also schnelle Lösungen her, aber viele Mittel wird der neue Präsident nach seinem Amtsantritt am 10. Dezember nicht zur Verfügung haben. Dennoch verkörpert Alberto Fernández derzeit als einziger der gewählten Präsidenten in Südamerika für viele einen Funken Hoffnung. Das ist eine gute Nachricht auf einem Kontinent, auf dem die meisten Menschen den Glauben an die Politik eigentlich längst völlig verloren haben.

Karen Naundorf

Karen Naundorf

Südamerika-Korrespondentin

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Karen Naundorf ist SRF-Korrespondentin in Südamerika, Standort Buenos Aires. Sie hat in Berlin und Barcelona Kommunikation studiert, die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg absolviert und ist Fellow des Pulitzer Center on Crisis Reporting.

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