Raketeneinschlag in Polen: Für den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski war es eine russische Rakete, für die Nato weist vieles auf einen Irrläufer der ukrainischen Luftabwehr hin. Die Hintergründe werden derzeit abgeklärt.
Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy glaubt, dass sich das Präsidentenbüro zu früh festgelegt habe und es so zu einer defensiven Kommunikation kam. Im Gespräch erklärt er, warum die ukrainische Regierung so reagierte.
SRF News: Selenski und sein Team haben mit aktiver Kommunikation international viel Sympathie gewonnen, nun aber etwas weniger geschickt kommuniziert. Was ist konkret schiefgelaufen?
Denis Trubetskoy: Das Präsidentenbüro, das Team um Selenski, ist teilweise so etwas wie eine moderne PR-Agentur. Sie können sehr schnell erkennen, auf welche Themen sie kommunikativ setzen sollten. Aber manchmal sind sie doch etwas zu schnell. Dabei ist die Schnelligkeit eigentlich auch ziemlich wichtig. Wir erleben jetzt den ersten grossen, modernen Krieg, der online stattfindet, und da muss man eben schnell sein. Aber dieser Vorfall hat gezeigt, dass man manchmal auch schlicht abwarten und sich nicht zu früh festlegen sollte.
Inwiefern reflektiert die Reaktion Selenskis auf den Vorfall die Stimmung in der Bevölkerung?
Dieser Dienstag war ein sehr schwieriger Tag für die Ukraine, mit einem riesigen Beschuss mit mehr als 90 Raketen. Der grösste Beschuss der Energieinfrastruktur bis anhin. Die Emotionen kochten hoch. Das ist vermutlich auch etwas in der internationalen Berichterstattung untergegangen, weil der Vorfall in Polen so neu war in der Form.
Es war die Erwartung der Bevölkerung, dass auch die Ukraine darauf sehr hart reagiert.
Die Ukrainer haben diese Nachricht sehr emotional wahrgenommen. Viele haben insgeheim gehofft, dass die Nato jetzt den Artikel vier oder fünf einsetzt. Es war auch die Erwartung der Bevölkerung, dass auch die Ukraine darauf sehr hart reagiert. Das spielte, glaube ich, bei der Kommunikation der Regierung und auch anderer Politiker in der Ukraine eine grosse Rolle.
Selenski selbst war Schauspieler und Komiker, viele Menschen in seinem Büro haben langjährige Erfahrungen in der Welt der Medien. Wie zeigt sich das in dem Regierungsstil?
Das ist natürlich ziemlich entscheidend. Selenski ist ein demokratischer Politiker. Ihm sind die staatlichen Institutionen nicht fremd, aber auch nicht besonders bekannt. Er und seine Leute haben sich natürlich in diesen Jahren eingearbeitet.
Selenski und sein Team brechen manchmal mit gewissen diplomatischen Traditionen.
Aber ziemlich eindeutig ist, dass sie manchmal so mit gewissen diplomatischen Traditionen brechen. Selenski agiert natürlich anders und das stammt aus dieser Welt.
Haben Sie ein Beispiel dafür, wie Selenski mit diplomatischen Traditionen bricht?
Selenski hat die Ukraine von einem Objekt der Aussenpolitik zu einem Subjekt der Aussenpolitik gemacht. Auch schon vor dem Krieg: Am Rande der Debatte um Nord Stream 2 im letzten Jahr war Angela Merkel in Kiew zum Abschiedsbesuch und sie wurde so gut wie von niemandem am Flughafen getroffen. Das war zum Beispiel ein ganz klares Zeichen.
Man muss natürlich immer aufpassen, dass man nicht über das Ziel hinausschiesst.
Und als Russland versuchte, die ukrainischen Gebiete im Süden und Osten zu annektieren, hat Selenski diesen unangekündigten, für den Westen unerwarteten, Antrag für die Nato-Mitgliedschaft unterschrieben. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das wirklich ein so kluger Schritt war, hat das alles eigentlich eine Tendenz. Und das ist insgesamt, glaube ich, für die Ukraine eher gut. Aber man muss natürlich immer aufpassen, dass man nicht über das Ziel hinausschiesst.
Das Gespräch führte Calum MacKenzie.