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Regierungsbildung in Israel Israel ist mehr als Netanjahu

Seit mehr als zwei Jahren hat Israel keine stabile, funktionierende Regierung mehr. Viermal mussten die Wahlberechtigten seit 2018 ein neues Parlament wählen. Nach jeder Wahl scheiterte Premierminister Benjamin Netanjahu mit der Regierungsbildung.

Gleichzeitig wurden die Korruptionsvorwürfe gegen ihn immer konkreter: Netanjahu muss sich wegen Bestechung, Betrug und Machtmissbrauch vor Gericht verantworten. Seit den letzten Wahlen im März 2021 ist er über Leichen gegangen, um sich an der Macht zu halten.

Elf Tage Krieg

Nachdem der Premier erneut keine Regierungsmehrheit zustande gebracht hatte, bekam sein Gegenspieler Jair Lapid den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Er hatte mit seiner Mittepartei Yesh Atid nach Netanjahus Likud am zweitmeisten Stimmen erhalten.

Erst sahen Lapids Versuche, eine Regierung ohne Netanjahu zusammenzuschustern, alles andere als vielversprechend aus. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Ausschreitungen in Jerusalem, Raketen der in Gaza regierenden Hamas auf Israel, elf Tage Krieg zwischen Israel und der Hamas, brutale gegenseitige Gewalt jüdischer und arabischer Extremisten in Israels Städten. Netanjahus Gegner mussten ihre Koalitionsgespräche abbrechen.

«Betrug des Jahrhunderts»

Nach der Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel rechnete Netanjahu mit einer Welle der Unterstützung. Schliesslich hat er sich wie kein anderer als Beschützer Israels profiliert. Doch die Welle blieb aus. Seine Gegner nahmen die Koalitionsgespräche wieder auf. Mit Erfolg.

Als Naftali Bennett verkündete, er werde dessen Gegner unterstützen, spuckte der Premier Gift und Galle. Bennett hatte ihm früher auf mehreren Ministerposten gedient. In einer hasserfüllten Fernsehansprache zog Netanjahu über ihn her und bezeichnete sein Verhalten als «Betrug des Jahrhunderts». Dabei hatte er Bennett eben noch selbst angeboten, in seiner Regierung im Rotationsverfahren Premier zu werden.

Ohne ihn werde Israel untergehen, drohte der 71-jährige Premier. Das alles nach einem Monat, in dem er kein einziges versöhnliches Wort fand, um die erhitzten Gemüter in seinem Land zu besänftigen.

Zunehmend autokratische Tendenzen

Netanjahu mag die israelische Zivilbevölkerung über die Jahre vor Selbstmordattentaten palästinensischer Extremisten bewahrt haben. Gleichzeitig ist er für Israel selbst zur Gefahr geworden. Aus «der einzigen Demokratie im Nahen Osten» machte er zunehmend eine Autokratie.

Als Premier untergrub er das Justizsystem und brandmarkte kritische Stimmen als «antisemitisch» und «anti-israelisch». Er kümmerte sich wenig um die Alltagssorgen seines Volkes und begab sich immer mehr in die Abhängigkeit ultrareligiöser, frauenfeindlicher und rassistischer Kräfte, nur um an der Macht zu bleiben.

Neue Koalition repräsentiert Israel besser

Das Ansinnen seiner Gegner, ihn als Premier zu ersetzen, bezeichnete Netanjahu als etwa so «demokratisch wie Syrien, Iran und Nordkorea». Dabei repräsentiert die Bandbreite seiner Gegnerinnen und Gegner Israel besser als Netanjahus «rechte Regierung».

Israel ist mehr als Netanjahu. Dieser Konsens allein macht zwar noch keine funktionierende Regierung. Aber es wäre höchste Zeit dafür.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

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HeuteMorgen, 03.06.2021, 06:00 Uhr

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