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Repression in Russland Russischer Analyst: Polizei und Sicherheitsorgane sind entfesselt

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Diese Botschaft verbreitet Russlands Präsident Wladimir Putin seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine. Es sind nicht viele, die es angesichts dieser Drohungen noch wagen, sich Kreml-kritisch zu äussern. Einer von ihnen ist Andrei Kolesnikov, Forscher beim Carnegie Center in Moskau, einer Denkfabrik, die sich mit russischer Innen- und Aussenpolitik befasst.

Das Klima in diesen Tagen in Russland sei fürchterlich, so Kolesnikov. Man müsse jede Sekunde damit rechnen, dass einem die persönlichen Freiheiten genommen würden – völlig grundlos. Die Polizei und all die anderen Sicherheitsorgane seien entfesselt, man wisse nicht, was man noch sagen dürfe, ohne gegen das Gesetz zu verstossen.

Zwar gelte im Land aktuell nicht das Kriegsrecht, aber es fühle sich zumindest so an, beschreibt Andrei Kolesnikov das Leben in Moskau. Wenn Präsident Putin von Verrätern spreche und einer notwendigen Selbstreinigung, rufe das diejenigen auf den Plan, die das Gesetz in die eigene Hand nehmen wollten.

Repression zeigt sich auch im Kleinen

Wie sich das anfühlt, musste kürzlich ein bekannter Journalist erleben. Bis vor drei Wochen war Alexei Wenediktow Chefredaktor des renommierten, kreml-kritischen Radiosenders «Echo Moskau». Bis der Sender vom Kreml verboten wurde und nach über 30 Jahren endgültig verstummte.

Und nun habe dieser verdiente Journalist Besuch bekommen von Unbekannten: Jemand habe einen Schweinekopf vor der Wohnungstür des Journalisten deponiert. An der Tür klebte ein ukrainisches Wappen mit einer antisemitischen Beschimpfung. Das könnten «Silowiki» gewesen sein, also Vertreter des Sicherheitsapparats, aber gerade so gut verärgerte Pseudo-Patrioten, so der Politologe.

Das mag ein Extremfall sein. Doch die Repression zeigt sich auch im Kleinen, im normalen Alltag. Wenn einem Polizisten in der U-Bahn-Station das Smartphone abnehmen, um es durchzusehen. Das sei zwar ein klarer Verstoss gegen die Verfassung – trotzdem passiere es.

Polarisierung beider Lager

Das Wort Krieg im Zusammenhang mit der Ukraine meidet Kolesnikov. Und doch fällt es im Verlauf des Gesprächs, wenn auch in anderem Kontext. Kolesnikov braucht den Begriff, um die vergiftete Atmosphäre im Innern Russlands zu beschreiben, wo sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberstehen. Hier die Kremltreuen, dort die Andersdenkenden.

Man kann momentan eine Art Bürgerkrieg der Meinungen beobachten.
Autor: Andrei Kolesnikov Forscher Carnegie Center Moskau

Das grösste Problem sei die Polarisierung. Beide Lager hätten sich in den letzten Tagen radikalisiert. Jene, die Putins Operation unterstützten, aber auch jene, die dagegen seien. Was man da gerade beobachten könne, sei eine Art «Bürgerkrieg der Meinungen». Eine Proteststimmung auf Seiten der Kriegsgegner nimmt der Politologe nicht wahr. Es sei zu riskant, auf die Strasse zu gehen, weil man damit seine Arbeitsstelle riskiere. Und einen neuen Job zu finden, sei praktisch unmöglich – angesichts der wirtschaftlichen Probleme. Diese haben sich zuletzt verschärft, als Folge der vom Westen verhängten Sanktionen.

Die hohe Inflation sei zwar schon jetzt spürbar, das Schlimmste aber stehe noch bevor. Trotzdem sei Putin heute beliebter als noch vor einigen Monaten. Seine Befürworter würden jetzt erst recht zu ihm halten.

«Sanktionen werden Putin nicht aufhalten»

Und das Problem: Die Sanktionen träfen auch demokratisch, westlich gesinnte Russinnen und Russen. «Wir sind auch Opfer Putins», sagt Kolesnikov. Das sei es, was der Westen nicht richtig verstehe, wenn er mit Sanktionen Putin bestrafen wolle. Die Sanktionen seien ihm völlig gleichgültig und würden ihn nicht davon abhalten, bis zum Letzten zu kämpfen.

Statt auf Sanktionen solle der Westen doch besser auf Bildung setzen. Jungen Russinnen und Russen die Türe öffnen, um im Westen zu studieren. Nur wenn der Westen dabei helfe, eine neue Generation von Russinnen und Russen zu fördern, die dem Westen freundlicher gesinnt seien, sei ein anderes Russland möglich, in vielleicht 20 Jahren. Den Glauben an ein demokratisches Russland haben Zehntausende bereits verloren – sie sind seit Kriegsausbruch ins Ausland geflohen. Auch viele Bekannte von Andrei Kolesnikov.

Er selbst will fürs Erste in Moskau bleiben, um sich vor Ort für ein demokratischeres Russland zu engagieren – so unmöglich das unter den gegebenen Umständen erscheinen mag. Er schreibe und kommentiere weiter, das habe er ja sein ganzes Leben lang getan. Ausgerechnet jetzt damit aufzuhören, erscheint ihm unsinnig. Er hoffe, dass er dafür nicht verfolgt werde. Auch wenn das nur eine Hoffnung sei.

Echo der Zeit, 26.02.2022, 18 Uhr ; 

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