Zum Inhalt springen

Russische Minderheit Lettisch lernen – oder ab über die Grenze

Russlands Krieg gegen die Ukraine macht Lettland Angst. Nun muss die russische Minderheit im Land zeigen, dass sie loyal ist.

In einem Gang in einer Berufsschule in Riga wartet eine Gruppe älterer Menschen. Die Männer und Frauen müssen den Sprachtest ablegen, der beweist, dass sie über Grundkenntnisse der lettischen Sprache verfügen.

Jetzt, mit 67, drücke ich wie ein kleiner Junge die Schulbank.
Autor: Sergej Prüfungskandidat

Der 67-jährige Sergej sagt, das sei für ihn schwierig, er habe ein Leben lang mit den Händen gearbeitet. «Ich habe lediglich einen Hammer, Nägel und ein Lenkrad benötigt. Jetzt, mit 67, drücke ich wie ein kleiner Junge die Schulbank.»

Männer und Frauen sitzen auf Stühlen in einem Gang der Schule.
Legende: Personen mit russischem Pass warten auf die Lettisch-Prüfung. SRF/Judith Huber

Sergej kam, wie alle Anwesenden im Raum, zu Sowjetzeiten nach Lettland (siehe Kasten). Auch nach der Unabhängigkeit Lettlands 1991 war die russischsprachige Minderheit nie wirklich gezwungen, Lettisch zu lernen. Sie blieb mehr oder weniger unter sich.

Lettland nach dem Zweiten Weltkrieg

Box aufklappen Box zuklappen

Lettland, das nach dem Ersten Weltkrieg unabhängig wurde, erlebte ab 1940 Jahrzehnte der sowjetischen Okkupation. Die nationale Elite und alle, die den Sowjets zu lettisch erschienen, wurden ermordet oder deportiert. In Lettland hatten zwar auch in den Jahrhunderten zuvor Menschen russischer Herkunft gelebt, doch während der Sowjetherrschaft wurden gezielt Hunderttausende Russischsprachige angesiedelt, das Land wurde gewaltsam industrialisiert. Gleichzeitig durfte Lettisch bis 1957 nicht an Schulen unterrichtet werden und die Sprache wurde bis zur Unabhängigkeit 1991 stark an den Rand gedrängt. Das Lettische ist für die Letten und Lettinnen deshalb der Kern ihrer Identität, die sie unbedingt schützen wollen. Bis heute gilt in Lettland über ein Viertel der Bevölkerung von insgesamt 1.9 Millionen Menschen als russischsprachig. Geschätzt 25'000 haben einen russischen Pass.

Allen Anwesenden ist gemeinsam, dass sie vor rund zehn Jahren die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Somit konnten sie eine russische Rente beziehen, und das schon ab 55. Diese russische Rente sei für sie wie ein Geschenk des Himmels gewesen, sagt eine der Frauen, die auf den Sprachtest warten. Denn sie habe nach dem Tod des Mannes ihr Kind alleine aufziehen müssen. So habe sie arbeiten und gleichzeitig Geld aus Russland erhalten können.

Judith Huber steht im Gang bei den wartenden Rentnerinnen und Rentnern.
Legende: Rentner und Rentnerinnen warten auf ihre Lettisch-Prüfung. ZVG/Alexander Welscher

Damals, als der Kreml in Lettland russische Pässe verteilte, hat der lettische Staat das akzeptiert. Nun aber verlangt derselbe Staat von diesen Menschen, dass sie über Grundkenntnisse der lettischen Sprache verfügen. Ansonsten müssen sie das Land verlassen.

Man hat das Gefühl, dass mit Russland nichts Gemeinsames mehr herrscht.
Autor: Reinhard Krumm Leiter des baltischen Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung

Reinhard Krumm ist der Leiter des baltischen Büros der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung. Er sagt: Der Grund für diese Massnahme sei der russische Krieg gegen die Ukraine. «Man hat das Gefühl, dass mit Russland nichts Gemeinsames mehr herrscht.» Der Schatten Russlands liege schwer auf Lettland.

Ein Foto von Reinhard Krumm in seinem Büro.
Legende: Reinhard Krumm, der Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Baltischen Staaten in Riga. SRF/Judith Huber

Und Igors Rajevs, Parlamentarischer Sekretär im Innenministerium, sagt: «Wir sind entschlossen herauszufinden, wer genau in Lettland lebt, wie tolerant und loyal diese Leute unserem Land gegenüber sind und wie sehr sie sich integrieren wollen.» Und er betont: Betroffen seien ausschliesslich russische Staatsbürger mit einer Aufenthaltsbewilligung.

Igors Rajevs, Staatssekretär im Innenministerium, in seinem Büro.
Legende: Igors Rajevs, Parlamentarischer Sekretär im Innenministerium, in seinem Büro. SRF/Judith Huber

Man befürchtet, der Kreml könnte diese Personen aufwiegeln oder gar eine Invasion damit begründen, dass man die eigenen Bürger und Bürgerinnen schützen müsse – ähnlich, wie das in der Ukraine geschah.

Wir sind ein kleines Volk und müssen dafür kämpfen, dass die lettische Sprache weiterexistiert.
Autor: Arnis Bürger von Riga

Deshalb greift die lettische Regierung nun durch – und stösst dabei mehrheitlich auf Zustimmung, wie eine kleine Umfrage in Riga zeigt. «Wir sind ein kleines Volk und müssen dafür kämpfen, dass die lettische Sprache weiterexistiert. Wenn jemand hier länger leben möchte, dann soll er unsere Sprache lernen», sagt etwa der 65-jährige Arnis. Und die 39-jährige Laura meint: Die Sprache des Landes zu sprechen, in dem man lebe, sei eine Frage des Respekts. Man hätte das schon vor 30 Jahren machen sollen, nicht erst jetzt.

Nun müssen aber die rund 5000 Personen, die sich nicht fristgemäss für die Prüfungen angemeldet haben, bis Ende November das Land verlassen. Darunter sind alte Menschen, die jahrzehntelang in Lettland gelebt haben. Damit sind die Befragten nicht einverstanden, das sei doch zu hart.

Die Behörden aber wollen durchgreifen: Aus ihrer Sicht sind diese Personen Renitente, die sich nicht integrieren wollen und deshalb ihr Aufenthaltsrecht verwirkt haben. Dass die Realität aber vielschichtiger ist, zeigt das Beispiel der Rentnerin Raissa. Sie lebt in Daugavpils, der zweitgrössten Stadt des Landes – über 200 Kilometer von Riga entfernt. Daugavpils war einst ein industrielles Zentrum und eine Durchgangsstation nach Osten. Heute sind die Grenzen praktisch dicht, die Gegend ist isoliert und arm. Und: fast alle sprechen Russisch. Die 67-jährige Raissa lebt in einem Plattenbau im neunten Stock.

Aussicht aus einem Plattenbau-Haus mit roten Ziegelsteinen auf die Siedlung.
Legende: Eine typische Siedlung an der Peripherie von Daugavpils. SRF/Judith Huber

Der Lift wird saniert, im Treppenhaus riecht es nach Suppe. Die Wohnung ist schlicht, aber gepflegt. Als Raissa zu erzählen beginnt, kommen ihr gleich die Tränen. Aus ihren Ausführungen wird klar: Sie ist in einem bürokratischen Albtraum gefangen.

Ich habe Mitte September eine SMS mit dem Bescheid erhalten, die Aufenthaltsbewilligung sei ausgesetzt. Eine Woche später dann hiess es, sie sei annulliert.
Autor: Raissa Rentnerin

Sie hat die komplizierten Vorgaben falsch verstanden, hat zwar angefangen, Lettisch zu lernen, wollte sich aber mehr Zeit nehmen – und hat die Frist verpasst. Das Resultat: «Ich habe Mitte September ein SMS mit dem Bescheid erhalten, die Aufenthaltsbewilligung sei ausgesetzt. Eine Woche später dann hiess es, sie sei annulliert.»

Das heisst: Sie hat kein Anrecht auf Sozialleistungen mehr, ihre Rente wird zurückgehalten, sie kann nicht zum Arzt und ist bald illegal im Land. Eine dramatische Situation.

Wir sammeln Spenden, kaufen Lebensmittel und Geschenkkarten der Apotheken und bringen es zu den Betroffenen.
Autor: Olga Petkewitsch Aktivistin und Journalistin

Eine Freundin hat deshalb die Gruppe um die lokale Aktivistin und Journalistin Olga Petkewitsch alarmiert. Petkewitsch sagt, was ihre Gruppe von Freiwilligen tut: «Wir sammeln Spenden, kaufen Lebensmittel und Geschenkkarten der Apotheken und bringen es zu den Betroffenen.» Denn es sind einige in Daugavpils, die in der gleichen Situation sind wie Raissa. Olga sagt: Manchmal steckten ihr Leute 20 Euro zu mit den Worten, Olja, gib das deinen Grossmüttern.

Olga Petkewitsch ist umgeben von älteren Menschen im Stadtparlament und hält Dokumente in der Hand.
Legende: Die Aktivistin und Journalistin Olga Petkewitsch hilft älteren Menschen, die komplizierten Formulare und Anträge auszufüllen. ZVG

Raissa lebt seit 46 Jahren in Lettland. Ausserdem stammt sie gar nicht aus Russland, sondern aus der Ostukraine. Auch sie sagt: Sie habe den russischen Pass aus der Not, aus finanziellen Gründen, beantragt. Nun gilt sie als Russin. Verwandte aber hat sie in Russland keine.

Petkewitsch sagt, viele der Betroffenen seien von den komplizierten Vorgaben überfordert. Sie organisiert deshalb Informationsveranstaltungen, postet Videos mit Anleitungen, hilft, Anträge auszufüllen. Die Aktivistin gehört zur jüngeren Generation, sie spricht fliessend Lettisch und Russisch, ist gebildet und dient so als eine Art Vermittlerin.

Viele ältere Menschen an einer Informationsveranstaltung im Stadtparlament.
Legende: Informationsveranstaltung im Stadtparlament von Daugavpils mit der Aktivistin Olga Petkewitsch. ZVG

Doch was ist mit denen, die das eigentliche Ziel dieser Massnahme sind: Diejenigen, die sich prinzipiell der Integration verweigern? Petkewitsch sagt: Ja, die gebe es, aber es seien nur wenige. Sie seien immer noch verbittert darüber, dass sie nach der Unabhängigkeit des Landes 1991 nicht Bürgerinnen und Bürger des Landes geworden seien.

Denn damals wurde die Staatsbürgerschaft nur denjenigen zugesprochen, die vor dem Einmarsch der Sowjets 1940 im Land gelebt hatten – und deren Nachkommen. Der Rest der Bevölkerung konnte sich erst später und unter Auflagen einbürgern lassen.

Das alles rächt sich nun. Und so müssten bis Ende November die ersten Personen Lettland verlassen haben. Andernfalls droht ihnen die Ausschaffung. Dass der lettische Staat tatsächlich Menschen abschieben wird, gilt allerdings als unwahrscheinlich. Ausserdem ist vor dem Verfassungsgericht eine Klage hängig.

Für Menschen wie Raissa ist aber schon der jetzige Zustand eine Qual: Sie leben ohne Einkommen, ohne legalen Status und in Ungewissheit in dem Land, das eigentlich ihre Heimat ist.

Rendez-vous, 14.11.2023, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel