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Schicksal in Australiens Feuer Der Überlebende

Verkohlte Häuser, die Luft schädlicher als 30 Zigaretten pro Tag: Und doch leben am «Ground Zero» der Brandkatastrophe Australiens noch Menschen. Die Reportage.

Ron Stainstreet hat alles verloren – ausser seinen Appetit. Genussvoll beisst er in das Steak- Sandwich, triefend vor Ketchup, das ihm die Freiwillige Feuerwehr auf dem Grill zubereitet hat. «Ich wäre nicht mehr hier, wenn ich nicht schon vor dem Brand abgehauen wäre», sagt er mit vollem Mund.

Ron ist 81 Jahre alt. Er sitzt auf einem Plastikstuhl im Feuerwehrhaus. Er trägt eine unter dem Knie abgeschnittene Hose, Hemd, Pullover, Turnschuhe. «Dasselbe, was ich vor vier Tagen getragen hatte», erzählt er.

Ein Dorf als «Ground Zero» der Feuerkatastrophe

Wingello, ein kleines Dorf zwei Stunden südlich von Sydney. 500 nette Leute, ein paar Pferde, ein Tante-Emma-Laden, der auch als Poststelle dient. Wingello – der Name kommt aus der Sprache der Ureinwohner und heisst «brennen».

Wingello ist «Ground Zero» der Buschfeuerkatastrophe in Australien – einer von vielen. Das Dorf ist typisch für unzählige kleine Siedlungen im Südosten des Kontinents. Elf Häuser wurden hier vom Feuer zerstört, auch das von Ron Stainstreet. Er wohnte keine 300 Meter vom Feuerwehrhaus, erzählt er.

Ökosysteme für Jahre geschädigt

Auch am Wochenende tobten in den Bundesstaaten New South Wales und Victoria über 150 Feuer, eines davon 6000 Quadratkilometer gross. Mindestens 27 Menschen sind bisher gestorben, 2000 Häuser abgebrannt. Eine Fläche fast so gross wie Österreich ist betroffen. Tausende von Hektaren Land gleichen einem nach-apokalyptischen Schlachtfeld. Ökosysteme sind auf Jahre geschädigt – falls sie sich überhaupt erholen können.

Weit über eine Milliarde Säugetiere, Vögel und Reptilien sind tot. Kängurus, die empfindlichen Sohlen ihrer Füsse abgebrannt, schleppen sich durch die Asche auf der verzweifelten Suche nach Wasser und Gras. Irgendwann geben sie auf: «Sie legen sich einfach nieder und sterben», berichtet ein Wildtierretter, «wie diese alten Elefanten in Afrika». Hitze, vergiftete Luft: Koalas betteln Radfahrer um Wasser an. Fledermäuse fallen tot vom Himmel – zu Tausenden.

Im Bahnhofspub ein Zimmer reserviert

Rons Appetit hat auch damit zu tun, dass er froh ist, überhaupt noch zu leben. Der Feuerwehrkommandant sei zu ihm damals nachhause gekommen. «Ronnie, das ist diesmal ein wirklich grosses Feuer, schau zu, dass du wegkommst». Ron griff nach seinem Geldbeutel und nahm den nächsten Zug in die nahe Provinzstadt Goulburn. Dort reservierte er sich im Bahnhofspub ein Zimmer. Er setzte sich an die Bar, bestellte ein Bier und wartete.

Einen Tag, zwei Tage. Vier Tage und viele Biere später sei ein Polizist ins Pub gekommen: «Wir haben Dich gesucht, Ronnie!» Der alte Mann wischt sich das Ketchup aus den Mundwinkeln. «Die hatten gemeint, ich sei verbrannt». Dann fuhr Ron Stainstreet heim. Er habe dann schon gewusst, dass sein Haus nicht mehr stehe. Aber nicht, was ihn erwartete.

Mehr als genug Thunfischdosen

Es herrscht geschäftiges Treiben hier, an der kleinen Feuerwehrstation von Wingello. Bronwyn Beard, freiwillige Feuerwehrfrau und Psychologiestudentin, brät Würstchen und Steaks. «Alles gespendet, von Leuten, von Betrieben», erzählt sie. Feuerstationen sind in Dörfern wie Wingello ein Zentrum für Informationen, für Hilfe, für Unterstützung oder einfach Orte, wo man nach der Katastrophe mit jemandem sprechen kann, und vielleicht auch mal weinen.

Es herrscht ein Gefühl der Solidarität. Ein mobiler Baristawagen gibt Kaffee aus – kostenlos für die Brandopfer. «Laufend kommen Leute und geben uns Dinge» sagt Beard. Fleisch, Wasser, Brot und Thunfisch. Viel Thunfisch. Man solle doch bitte lieber Geld spenden, bittet sie. «Thunfischdosen haben wir genug».

Der Brand kann von niemandem gelöscht werden

Auf dem Vorplatz rüsten sich sechs Feuerwehrleute zum nächsten Einsatz. Einer kontrolliert den Ölstand seines Tanklöschfahrzeugs. Die Maschinen sind seit September im Dauereinsatz. Die Buschfeuer-Saison begann Monate früher als in anderen Jahren. Die gelben Uniformen sind verrusst, die Gesichter der Männer von Schweiss und chronischer Erschöpfung gezeichnet. Alle Feuerwehrleute sind Freiwillige. Klempner, Garagisten, Bauern, Metzger und Anwälte. Viele hatten schon seit Wochen gegen das Feuer gekämpft, jenes Feuer, das schliesslich das Dorf doch überwältigte.

«Es ist noch lange nicht vorbei», warnt ein Feuerwehrmann. In der Schlucht hinter dem Dorf lauert das Feuer, einer wilden Bestie gleich, bereit zum nächsten Angriff. Ein Team von Einsatzkräften hält es in Schach, Tag und Nacht. Niemand hier glaubt, dass dieser Brand gelöscht werden kann. Zu grossflächig ist er, zu intensiv das Feuer, zu gefährlich. «Nur starker Regen kann das», warnt der oberste Feuerwehrkommandant Shane Fitzsimmons. Regen gibt es frühestens im April, falls überhaupt.

Für die Leute aus Wingello begann eine Lotterie

Feuerwehrmänner, zurück vom Einsatz, setzen sich zu Ron an den Tisch. Rose Bruggeman, die Tochter aus dem Tante-Emma-Laden, verteilt Eiscreme. Am Tag, an dem sich Rons Leben für immer verändern und sich das Schicksal vieler Bewohner von Wingello noch auf Jahre bestimmen sollte, kletterte die Bestie aus der Schlucht. Angetrieben von starken Winden hätten die Flammen «in zwei Stunden etwa 12 Kilometer zurückgelegt, was einfach verrückt ist», erklärt Peter Lockerby, Feuerwehrkommandant für den Bezirk.

«Wir haben das schon einmal gesehen, oben im Norden von Australien. Aber wir hätten nie gedacht, dass wir es hier unten erleben würden». Die Flammen frassen sich durch das knochentrockene Unterholz. Eukalyptusbäume, jahrelang ohne Regen, verwandelten sich in Sekunden zu meterhohen Fackeln. Teile von Rinde und Äste wurden zu flammenden Geschossen. Kilometer weit flogen sie, nur um am Ziel weitere Brandherde zu entfachen. Einmal dem Tal entkommen, habe sich das Feuer «hoch in die Luft katapultiert. Es war eine Flammenwolke, aus der es Feuer regnete», erinnert sich Feuerwehrmann Tom. Glühende Flugasche habe sich auf das Dorf gelegt. Und für die Leute von Wingello begann eine Lotterie.

Psychiater und Psychologen arbeiten rund um die Uhr

«Ich habe keine Ahnung, weshalb es mich und nicht meine Nachbarn getroffen hat», sagt Ron. Wie so oft bei Buschfeuern stehen neben komplett zerstörten Häusern Gebäude, die völlig unberührt scheinen. Wie das kleine Cottage von Geraldine Snell, oben an der Strasse. Die Mittsiebzigerin aus Paris ist ganz in schwarz gekleidet, trotz fast 40 Grad Hitze. Schweiss steht ihr auf der Stirn. «Ich habe keine Ahnung, weshalb es mich nicht getroffen hat», erzählt Snell mit starkem französischem Akzent. Sie zeigt auf ihr kleines Haus. Es sei komplett aus Holz gebaut. «Man konnte unter der Veranda die Flammen sehen», beschreibt sie den Moment des Infernos. Doch dann habe sich das Feuer plötzlich weggedreht. «Vielleicht ein Windstoss, ich weiss es nicht». Jedenfalls sei ihr Heim unbeschädigt geblieben.

Das einzige, was heute in ihrem Garten an das Feuer erinnere, sei der leicht versengte Plastikrand eines Teppichs. Geraldine schiessen Tränen in die Augen, wenn sie an ihre Nachbarn denkt. «Diese armen, armen Leute, die alles verloren haben». Sie fühle sich fast schuldig, heil davon gekommen zu sein.

Überlebendensyndrom nennen es die Experten. Psychologen und Psychiater arbeiten rund um die Uhr. Trauma-Beratung, Behandlungen gegen Depression und Suizidgefahr seien am meisten gefragt, erzählt an diesem Abend ein Arzt im Fernsehen, zwischen Werbung für Zahnpasta und Billigurlaub in Bali. «Vor allem junge Menschen sehen keine Zukunft mehr».

Spitäler sind überfüllt mit Lungenkranken

Auf der anderen Seite der Bahnlinie rast, mit zuckenden roten Lichtern und heulender Sirene, eine Ambulanz vorbei. Die Zahl der Todesopfer dieser Brände ist zwar vergleichsweise klein. Die Krankenhäuser sind aber überfüllt mit Menschen, die kaum noch atmen können. Asthmakranke, Senioren, Kinder. Der Rauch der Buschfeuer bedeckt weite Teile Südostaustraliens. Tag und Nacht, braungrau, mit Russpartikeln versetzt, frisst er sich in die Häuser. Und in die Lungen der Menschen. In der Hauptstadt Canberra stieg eine Frau aus dem Flugzeug, nur um mit Atemnot zusammenzubrechen und zu sterben.

Täglich Schadstoffe wie in 34 Zigaretten

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Eine Universität hat errechnet, dass man in den Brandgebieten pro Tag so viele Schadstoffe einatmet, wie in 34 Zigaretten stecken. Immer mehr Ärzte warnen vor den Langzeitfolgen für die Bevölkerung an der australischen Ostküste. «Die anhaltende starke Rauchbelastung wird wahrscheinlich zu mehr chronischen Herz- und Lungenerkrankungen führen und die Lebenserwartung verkürzen», schreibt der Medizinprofessor David Shearman.

Ron atmet schwer, als er die Strasse hochwandert, zur Ecke, wo noch vor ein paar Tagen sein Haus stand. Alle paar Meter wird er von jemandem angehalten. «Jeder kennt mich hier. Ich bin der inoffizielle Bürgermeister», schmunzelt er. Es überrascht etwas, wie wenig er unter seinem Schicksal zu leiden scheint. Vielleicht ist es die Gewissheit, in seiner Gemeinde gut aufgehoben zu sein. Ein junger Mann bietet ihm ein Zimmer in seinem Haus an, «bis du wieder auf den Beinen bist». Ein anderer will ihm seinen Wagen leihen. «Die Jungs hier haben mir sogar angeboten, mir ein neues Haus zu bauen – gratis.» Das wolle er aber nicht, sagt er. «Ich will selbst die Kontrolle über meine Zukunft haben».

Im Gegensatz zu vielen Brandgeschädigten ist Ron versichert. «Wenigstens diese Sorge habe ich nicht». Dann spricht ihn ein Mann an, wohl um die 70, mit weissem Strohhut und rotem Kopf. Er ist ausser sich vor Wut und Empörung. «Ist es nicht unglaublich mit diesen verdammten Grünen?», fragt er Ron rhetorisch.

Format von Morrison ist hier kein Thema

Kommentatoren und Klima-Demonstranten rund um den Globus mögen die scheinbare Inkompetenz und Arroganz des australischen Premierministers Scott Morrison beklagen, hier aber ist er kein Thema. Nicht, dass es nichts zu klagen gäbe. Morrison war mitten in der Krise nach Hawaii in die Ferien geflogen. Nach seiner zögernden Heimkehr machte er widerwillig Mittel für die Brandbekämpfung locker. Und mit der Glaubwürdigkeit eines Priesters in einem Bordell gestand der erklärte Klimaskeptiker und begeisterte Freund des klimazerstörenden Brennstoffs Kohle dann endlich ein, Erderwärmung sei ein «Faktor» bei der Entstehung der Feuersbrünste – «unter anderem». Die Meinung, klimapolitische Massnahmen hätten direkten Einfluss auf die Feuer, sei aber «lächerlich».

Klimaforscher haben schon vor Jahren gewarnt

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Für Klimaforscher ist die Erderwärmung der Hauptgrund für das Inferno. Vor Jahren schon hatten sie vor genau dieser Eskalation gewarnt. Denn seit 1910 ist die Durchschnittstemperatur in Australien um mehr als ein Grad Celsius gestiegen. Dadurch trocknete die gesamte Vegetation aus – deutlich mehr als unter normalen Bedingungen. «Nicht jedes Wetterereignis ist die direkte Folge des Klimawandels. Aber wenn man Trends sieht... wird es unbestreitbar mit dem globalen Klimawandel verbunden», erklärt die Ökologieprofessorin Glenda Wardle.

In den Strassen von Wingello scheinen nur die Grünen die Schuldigen zu sein. Und sonstige «Gutmenschen». Das sagt ein Mann mit Army-Haarschnitt und Spiegelsonnenbrille, der sich zu Ron stellt. Denn die hätten jahrelang das präventive Abbrennen der Wälder verboten. Dadurch hätten sich Millionen Tonnen trockener Blätter und Rinde ansammeln können – Zunder auch für die kleinste Flamme. Doch diese Behauptung ist falsch – «Unsinn», wie ein Feuerwehrkommandant sogar kritisierte. Progressive Parteien in Australien befürworten diese Methode der Feuerprävention.

Die Mär von den bösen Grünen

Die Zeitung unter dem Arm des Wutbürgers mit Hut gibt Aufschluss über den Ursprung seines Denkens: der «Daily Telegraph», die am meisten gelesene Zeitung Australiens. Der Mann ist mit grosser Wahrscheinlichkeit Opfer jahrelanger Gehirnwäsche – wie Millionen anderer Australier, welche die Medien des Amerikaners Rupert Murdoch konsumieren. Etwa 70 Prozent des australischen Druckmedienmarktes kontrollieren Blätter, die schon vor Jahren jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit verloren haben.

Propaganda statt Journalismus: Seit 20 Jahren, jeden Tag, leugnen auflagestarke Blätter wie «The Australian», «Daily Telegraph» und «Sun Herald» die Existenz von Klimawandel und bejubeln die Vorteile des Brennstoffs Kohle, dem grössten Klimakiller überhaupt. Als im September die Flammen kamen, negierten sie diese erst. Dann packten sie kleine Geschichten mit Fotos von grünen Wäldern auf Seite 4 – bis sie keiner mehr glaubte. Seither verkaufen sie ihren Lesern die Mär von den bösen Grünen und von «Horden von Brandstiftern», welche die Feuer gestartet haben sollen. Auch nicht wahr, sagt die Polizei. Zu spät, die «Fake News» wuchern auch in den sozialen Medien weiter, einem Krebsgeschwür gleich.

Der verkohlte Albtraum eines Lebens

Ron kann sich endlich vom Wutmenschen lösen. Vielleicht ist es sein Alter, das ihn etwas differenzierter über die Ursachen der Jahrhundertfeuer denken lässt. «Ich glaube, es ist einfach die Natur», meint er, als er vor dem Eingang zu seinem Grundstück ankommt. «Aber ich weiss es nicht. Niemand weiss es.» Über eine kleine Treppe betritt der alte Mann das, was einmal sein Garten gewesen war. Er zeigt auf ein paar Autoanhänger: «Die habe ich selbst gebaut.» Die Seitenwände sind ausgeglüht. Von den Reifen sind nur noch die Stahldrähte zu sehen. Daneben das Skelett eines Kleinbusses, eine verglühte Gartenschere, ein zerstörter Rasenmäher. Daneben liegt eine Aluminiumfelge, die in der Hitze des Feuers geschmolzen war. Ein dünnes, silbernes Rinnsal aus Metall – erstarrt im Moment, als das Inferno vorbei war.

Ron hat gewusst, dass sein Haus nicht mehr stand. Aber nicht, was ihn erwartete.
Legende: Ron hat gewusst, dass sein Haus nicht mehr stand. Aber nicht, was ihn erwartete. Urs Wälterlin/SRF

Ron stakt durch die Überreste seines Gartens, den Blick nach unten gerichtet, vorsichtig, auf nichts zu treten, was vielleicht kostbar sein könnte. Im verkohlten Albtraum seines Lebens sucht er nach Erinnerungen. Erst jetzt zeigt der alte Mann Emotionen – seine Augen werden feucht. «100 Jahre alt war mein Haus», sagt er, «und das ist alles, was davon übriggeblieben ist».

Er zeigt auf zwei Schornsteine. Die ausgeglühten Wurzeln eines uralten Efeubaums umklammern sie wie die grauen, dünnen Finger eines Gespenstes. Der Himmel ist rauchverhangen, er wirkt bedrohlich. Im Hintergrund heulen die Sirenen der Feuerwehr. Sie sind wieder auf dem Weg zur Schlucht. «Es ist noch lange nicht vorbei», sagt Ron. «Noch lange nicht.»

Wie mit Finger eines Gespensts umklammert der verbrannte Efeubaum den Schornstein.
Legende: Wie mit Finger eines Gespensts umklammert der verbrannte Efeubaum den Schornstein. Urs Wälterlin/SRF

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