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Schiffsfriedhof Türkei – Endstation für Luxusdampfer

Wie Abwrackwerften vom Niedergang der Kreuzfahrtindustrie profitieren – und ihre Arbeiter in Gefahr bringen.

Die letzte Fahrt der Costa Victoria endet auf einer grossen Stahlrampe. Das 250 Meter lange Kreuzfahrtschiff passt sich in langsamer Fahrt in die Reihe weiterer Ozeanriesen ein, die zum Teil wie abgesägt oder nur mit einem Teil ihrer Aufbauten Seite an Seite im Hafenbecken liegen.

Aliaga nördlich von Izmir ist ein riesiger Schiffsfriedhof, auf dem Kräne riesige Metallplanken bewegen und Arbeiter wie Ameisen an Schiffsteilen schweissen. Am Horizont rauchen die Schlote der Stahlwerke, welche den Schiffsstahl einschmelzen und wiederverwerten.

Hier wird seit letztem Sommer auf Hochtouren gearbeitet, seitdem immer mehr Kreuzfahrtkonzerne ihre einst stolzen Luxusliner verschrotten. So auch die Costa Victoria, die Ende Januar von Piombino in der Toskana hier an die türkische Riviera gebracht wurde. Vor einem Jahr bediente das 25 Jahre alte Schiff im Auftrag des Mutterkonzerns Carnival die Karibik-Route. Dann kam das Coronavirus an Bord und der Luxusliner fand keinen Hafen zum Anlegen – und auch keine Kundschaft mehr.

Hohe Umwelt- und Sicherheitsauflagen

«Wir haben in unserer Werft jetzt sechs Kreuzfahrtschiffe, von denen zwei schon fast verschrottet sind», sagt Kamil Önal, während er stolz auf der Terrasse seines Büros steht, welche das riesige Areal überblickt. Sein Abwrack-Unternehmen leitet er mit seinem Bruder in zweiter Generation. Der Vater überwacht am Fenster mit dem Fernglas die laufenden Arbeiten. Die Önals sind stolz, denn ihre Werft gehört in der Türkei zu jenen, welche die komplexen Umwelt- und Sicherheitsauflagen der Europäischen Union einhalten.

Das EU-Zertifikat in einem Nicht-EU-Land – das verschafft den türkischen Abwrackwerften einen entscheidenden Marktvorteil. Denn sie sind billiger als europäische Standorte – aber nicht mit dem Negativ-Image behaftet, wie die Billig-Abwracker in Indien und Bangladesch. Dorthin dürfen die Kreuzfahrtkonzerne ihre Schiffe auch nicht mehr hinschicken – gesetzliche Vorschriften verbieten das, wie auch das Nachhaltigkeitsziel, mit dem die Branche seit Jahren wirbt.

Wenn wir gegen die EU-Auflagen verstossen, verlieren wir Aufträge.
Autor: Kamil Önal Leiter eines Abwrack-Unternehmens

«Die Verschrottung bei uns wird von den Schiffseignern von Anfang bis Ende begleitet und überprüft – streng nach den EU-Auflagen. Wenn wir dagegen verstossen, verlieren wir Aufträge.» Kamil Önal erklärt so, dass ordnungsgemässes Arbeiten in seiner Werft deshalb verpflichtend ist. «Zwei Tage im Monat machen wir Sicherheitstraining – für mittlerweile 2500 Arbeiter.» Das sind 1000 mehr als vor der Covid-Pandemie. Wegen der vollen Auftragsbücher musste der Werftbesitzer zusätzlich anstellen.

Kreuzfahrtschiffe in der Türkei.
Legende: Diese einstigen Luxus-Kreuzfahrtschiffe werden zurzeit in Aliaga nördlich von Izmir verschrottet. srf

Dennoch mangelnde Kontrolle vor Ort

Fragt man aber bei den Werftarbeitern nach, so erzählen sie unter Einhaltung der Anonymität etwas anderes. Mit den immer neuen Kreuzfahrtschiffen habe der Zeitdruck zugenommen. Dazu werden die Schiffe in viel zu grosse Stahlteile zerlegt, welche dann per Kran gefährlich über das Gelände transportiert werden. «Die schmeissen dir dann Stahlplanken von 20 oder 60 Tonnen vor die Füsse. Wir müssen sie dann mit unseren Schneidbrennern klein machen.»

Schwierige Jahre für Kreuzfahrtbranche bis 2023

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Die von der Coronavirus-Pandemie hart gebeutelte Kreuzfahrtindustrie hat nach Ansicht von Carnival-Chef Arnold Donald mindestens zwei weitere harte Jahre vor sich. Die Branche dürfte wohl nicht vor 2023 wieder das Niveau von vor der Coronavirus-Krise erreichen, sagte Donald der «Financial Times». Carnival ist das grösste Kreuzfahrtunternehmen der Welt.

Die gesamte Flotte des US-Kreuzfahrtkonzerns könnte bis Ende dieses Jahres wieder fahren, allerdings dürfte es länger dauern, bis die Einnahmen aus der Zeit vor dem Ausbruch der Pandemie wieder erreicht seien.

Carnival hatte wegen des coronabedingten Geschäftsausfalls im vierten Quartal 2020 einen Nettoverlust von 1.9 Milliarden Dollar eingefahren.

«Das passiert, wenn kein Kontrolleur vor Ort ist», sagt ein anderer Arbeiter, der seit 28 Jahren im Geschäft ist. «Oft schauen die Kontrolleure aber gar nicht hin. Sie bekommen ihr Geld und gehen weiter.»

Gewerkschaften gibt es in den Abwrackwerften nicht – weder die Unternehmer noch die Politik haben ein Interesse daran. Wer kontrolliert die Kontrolleure? Anscheinend liegt hier der Systemfehler, der durch die gemeinsamen Interessen von Schifffahrtskonzernen und Abwrackwerften genährt wird – zum Schaden derer, welche die eigentliche gefährliche Arbeit machen.

10vor10, 23.03.2021, 21:50 Uhr

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