Der Frust ist spürbar, als am Donnerstagabend der de-facto Aussenminister der kurdischen Selbstverwaltung, Badran Ciya Kurd, auf dem Bildschirm auftaucht und per Zoom internationalen Journalisten erklärt, man sehe sich gezwungen, selber zu handeln. Bald würden lokale Gerichtsprozesse starten.
Wiederholt hatten die Kurden, die in Nord- und Ostsyrien eine Selbstverwaltung mit zivilen Strukturen aufgebaut haben und die Gefängnisse kontrollieren, die Herkunftsländer der IS-Gefangenen aufgerufen, ihre Landsleute zurückzuholen. Die meisten Staaten weigern sich – auch die Schweiz.
Bestrebungen der Kurden, ein internationales Tribunal mit Unterstützung westlicher Staaten zu etablieren, haben zu keinen Ergebnissen geführt. Nun also lokale Gerichtsverfahren. Die rechtliche Basis bilde das Strafgesetzbuch der Selbstverwaltung, hiess es bei der Präsentation. Eine Todesstrafe ist nicht vorgesehen. Es könnten sowohl Männer als auch Frauen vor Gericht gestellt werden, wenn genügend Beweise vorliegen, so Kurd.
Bis zu lebenslanger Haft
Gemäss einer Übersetzung des Rojava Information Center reicht die Spanne möglicher Freiheitsstrafen von einem Jahr für Leute, die zu untergeordneten Tätigkeiten gezwungen wurden, bis zu zwanzig Jahren für Frontkämpfer und Führungspersonen und lebenslang bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Kurd gab sich staatsmännisch: Die Selbstverwaltung sieht sich als demokratisch legitimierte Behörde, die sich ans Völkerrecht und an Rechtsstaatlichkeit halte. So sollen auch die IS-Prozesse gegen die Ausländer ablaufen. Internationale Beobachter, die Presse, auch Anwälte seien eingeladen, die Verhandlungen zu verfolgen – dies in einer politisch und militärisch äusserst heiklen Lage.
Viele Details der Prozesse, die bald starten sollen, scheinen aber noch offen, manche rechtliche Fragen kann die Selbstverwaltung nicht schlüssig beantworten. So scheint unklar, ob die Angeklagten von Amtes wegen eine Verteidigung erhalten. Der Aussenbeauftrage Kurd sagte lediglich, Anwälte aus den Herkunftsländern oder auch Behördenvertreterinnen seien willkommen. Schwammig blieb auch die Erklärung der Zusammensetzung und Struktur des Gerichts.
Ein Hilferuf aus Nordostsyrien
Es sei eine grosse Last, die man zu tragen habe, mit den Tausenden IS-Gefangenen. Auch die Prozesse würden die Selbstverwaltung vor riesige Herausforderungen stellen, räumte Kurd ein. Erneut rief er die internationale Gemeinschaft zu Unterstützung auf. Insofern ist die Ankündigung der Prozesse auch als Hilferuf aus Nordostsyrien zu lesen.
Die Selbstverwaltung bleibt bei ihrer Forderung, Herkunftsländer sollten ihre Landsleute zurückholen und in der Heimat der Strafverfolgung zuführen. Dies könne auch nach einer Verurteilung vor lokalen Gerichten erfolgen, also die Verbüssung einer Haftstrafe in der Heimat. Das wird zwischen europäischen Staaten teils praktiziert, setzt bilaterale Verträge voraus, und damit überhaupt ein anerkanntes Staatsorgan – was die Selbstverwaltung nicht ist.
Das ist die zweite, nicht nur unterschwellige Botschaft aus Nordostsyrien: mit dem Gebaren als Quasi-Staat, der Gerichtsprozesse abhält, versucht sich die Selbstverwaltung als autonomes Organ international zu etablieren. Die lokale Strafverfolgung von IS-Verdächtigen aus Europa wird damit unweigerlich zu einem diplomatischen Hochseilakt.