Der Secours populaire français ist ein Hilfswerk in Mulhouse. Die Helferinnen und Helfer haben alle Hände voll zu tun: Eben ist eine Spende angekommen. Gläser mit Tomatensauce, Gemüse, Früchte, Bücher. «Wir sortieren alles. Denn manche Produkte sind eher für Studierende geeignet, andere nur für Familien», sagt Mohammad Hammas.
Der junge Marokkaner studiert – eigentlich, denn Corona hat sein Leben auf den Kopf gestellt: Als die Restaurants in Mulhouse schlossen, verlor Mohammad seinen Nebenjob, wurde plötzlich zum Hilfsbedürftigen. Jetzt engagiert er sich beim Hilfswerk, will anderen helfen.
Wir haben sehr viele Anfragen von Studierenden. Viele erleben schwierige Situationen.
Mohammads Fall sei kein Einzelfall, sagt Sophie Palpacuer vom Secours populaire in Mulhouse. Seit Beginn der Coronakrise haben die Anfragen bei dem Hilfswerk stark zugenommen – um 40 Prozent. «Wir haben sehr viele Anfragen von Studierenden. Viele erleben schwierige Situationen. Jetzt kommen auch Bedürftige aus der Gastronomie und der Hotellerie zu uns», so Palpacue.
Wie hart die Corona-Pandemie die Wirtschaft in Mulhouse trifft, wird im Stadtzentrum deutlich: Nur Läden, die Grundbedürfnisse abdecken, wie Supermärkte, dürfen öffnen. Die Kleidergeschäfte auf der Einkaufsmeile sind geschlossen. Dazwischen immer wieder leere Restaurants und Cafés – viele werden zum Verkauf angeboten. Seit ab 18 Uhr eine Sperrstunde gilt, rentiert der Betrieb der Beizen nicht mehr.
Doch es gibt auch ein anderes Mulhouse: das Rebberg-Quartier. Das ruhige, grüne Viertel mit Villen aus der Gründerzeit liegt auf einem Hügel im Süden der Stadt und ist das Luxusquartier von Mulhouse. Wer hier lebt, verdient rund 105'000 Euro im Jahr – das ist viermal mehr als der Mulhouser Durchschnitt.
Nur: Weshalb ist das soziale Gefälle im kleinen Mulhouse so gross? Vincent Béal, Soziologe an der Universität Strassburg, sagt: Mulhouse sei in den letzten Jahrzehnten zu einer Stadt der Extreme geworden: «Das Rebberg-Quartier ist zuoberst in der sozialen Hierarchie der Stadt. Die anderen Quartiere zuunterst. Dazwischen gibt es wenig: Die Mittelklasse hat die Stadt verlassen.» Jahrzehntelange Sparpolitik und De-Industrialisierung haben Spuren hinterlassen. Schon vor der Pandemie lebte ein Drittel der Mulhouser unter der Armutsgrenze. Corona wirke jetzt wie ein Brandbeschleuniger.
Ungleichheit gibt es nur dort, wo es Reichtum gibt. Armut alleine reicht nicht.
Doch weshalb so viel Armut ausgerechnet im Elsass – einer Region, die eigentlich zu den reichsten Frankreichs gehört? Soziologe Béal sagt: «Ungleichheit gibt es nur dort, wo es Reichtum gibt. Armut alleine reicht nicht.» In Mulhouse sorge die Nähe zur Schweiz für dicke Portemonnaies bei Grenzgängerinnen und Geschäftsleuten auf dem Rebberg. Corona verstärke die Ungleichheit, denn die Mittel- und Oberschicht konnte im Shutdown viel sparen. «Ein Restaurantbesuch war zum Beispiel nicht möglich», sagt Béal. «Die Ärmeren haben hingegen ihre Arbeit verloren, ihren Lohn. Diese Ungleichheiten werden sich noch verstärken.»
Die Schere zwischen Arm und Reich: In Städten wie Mulhouse geht sie immer weiter auf. Die Politik ist gefordert.