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Stimmen der Angst aus Kabul «Ich fürchte mich davor, von den Taliban erkannt zu werden»

Vor einer Woche haben die Taliban in Kabul die Macht übernommen. Seither gibt es in der afghanischen Hauptstadt unzählige Menschen, die um ihr Leben fürchten. Menschen, die bis zum Machtwechsel für ausländische Organisationen gearbeitet haben, oder für die nun gestürzte Regierung.

An diese Menschen heranzukommen, ist aufgrund der Gefahrenlage sehr schwierig. SRF-Südasien-Korrespondent Thomas Gutersohn hat seine Kontakte abtelefoniert, um an Informationen aus Kabul zu kommen. Zwei Männer und eine Frau waren bereit, mit ihm zu sprechen, bestanden jedoch auf Anonymität.

Jaquoub: «Ich verstecke mich zu Hause»

Normalerweise steht Jaqoub vor der Kamera und berichtet über die aktuellen Geschehnisse in Kabul. Jetzt ist alles anders: «In der ganzen letzten Woche bin ich nicht aus dem Haus, nicht einmal, um Essen einzukaufen. Ich bin ein Fernsehjournalist, und ich fürchte mich, dass mich jemand erkennen würde. Also verstecke ich mich zu Hause.»

Sein Fernsehsender hat ihn gebeten, zu Hause zu bleiben. Sein Gesicht ist bekannt in der Stadt. Jaqoub fürchtet, auch von den Taliban erkannt zu werden: «Die Taliban haben mich nicht kontaktiert oder mir gedroht. Aber ich mache mir grosse Sorgen.»

So haben die Taliban Afghanistan in nur vier Monaten erobert

Nicht ohne Grund. Letzte Woche wurde ein Familienmitglied eines Journalisten des Fernsehsenders «Deutsche Welle» ermordet. War es Zufall oder eine gezielte Einschüchterungstaktik für andere Journalisten? Jaqoub weiss es nicht. Er sagt aber: «Wir können den Taliban nicht trauen. Sie sagen, sie würden niemandem Leid zufügen. Aber sie sind mit ihren Waffen nach Kabul gekommen. Nun schlagen sie Leute am Flughafen oder auf den Strassen.»

Mousamma: «Hazara haben keine Zukunft»

Auch Mousamma traut den Taliban nicht über den Weg. Sie hält sich ebenfalls in ihrem Zuhause in Kabul versteckt und berichtet davon, was sie in den sozialen Medien sieht: «Man sieht diese Videos, wie die Taliban Häuser durchsuchen. Warum machen sie das, wenn sie die Leute verschonen wollen? Warum wollen sie das alles wissen?»

Nur zweimal habe sie ihr Haus in Kabul seit der Machtübernahme verlassen, um einkaufen zu gehen, sagt Mousamma. Überall stünden die Taliban. An allen Kreuzungen und allen Polizeiposten: «Sie geben sich als Polizisten aus, ohne Ausweis. Es ist beängstigend, herauszugehen. Sie tragen Waffen, reden mit den Männern, überprüfen Autos und ID-Karten.»

Taliban auf einem Auto.
Legende: Taliban-Kämpfer kontrollieren in Kabul viele Autos und die Identitäten der Einwohnerinnen und Einwohner. Keystone

Mousamma gehört der schiitischen Minderheit der Hazara an. Auch wenn sie von den Taliban nie verfolgt wurden, lebten die Hazara unter ihrer Herrschaft vor gut 20 Jahren als Bürger zweiter Klasse.

Mousamma fürchtet, wieder von der Paschtunischen Mehrheit im Land unterdrückt zu werden, wenn die Taliban die Macht behalten: «Sie werden nie erlauben, dass wir frei leben können. Hazara haben keine Zukunft. Ich habe so hart dafür gearbeitet, was ich nun geworden bin. Wenn sie mich nicht weiter arbeiten lassen, kann ich nicht mehr hier leben.» Wie Jaqoub versucht auch Mousamma, Afghanistan zu verlassen. Doch das ist schwierig.

Mohammed: «Die Unsicherheit bringt mich noch um»

Schon nur der Weg zum Flughafen sei lebensgefährlich, sagt Mohammed, ein weiterer Gesprächspartner, der für die ehemalige Regierung von Ashraf Ghani gearbeitet hat: «Meine Familie und ich sind auf einer Liste, um ausgeflogen zu werden. Doch wir kommen im Moment nicht einmal zum Flughafen. Da ist so viel Chaos. Ich habe Angst, meine neun Monate alte Tochter zu verlieren. Wir wissen im Moment nicht, was tun.»

Sein Haus sei bereits von den Taliban aufgesucht worden, nachts um drei Uhr. Die Kalaschnikows umgehängt, hätten sie durch die Fenster geschaut und in die Garage, sagt Mohammed: «Ich weiss nicht, warum sie zu uns kamen. War es einfach Zufall, oder kamen sie absichtlich zu uns mit einem Befehl? Kommen sie wieder oder lassen sie uns in Ruhe? Die Unsicherheit bringt mich noch um.»

Niemand weiss, was die Taliban genau im Schilde führen – und das zermürbt. Eine Ausgangssperre gebe es nicht in Kabul, aber wer wolle nun nachts raus, wenn überall bewaffnete Männer stünden, sagt Mohammed weiter. «Es sind nun auch viele Gangster auf den Strassen, die die Situation ausnutzen. Wir wissen nicht wer, wer ist.»

Derweil sind die Lebensmittel-Preise in der Stadt gestiegen. Die Banken blieben geschlossen. Das Geld werde knapp – das Ausharren zur Zitterpartie. Und dennoch sind viele froh, dass zumindest die Kämpfe im Land aufgehört haben. Die Hoffnung besteht, dass dies auch so bleibt.

Tagesschau, 21.08.2021, 13:00 Uhr ; 

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