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Sträflinge im Ukraine-Krieg «Einsatz in der Söldnergruppe Wagner als einziger Ausweg»

Bis zu 50'000 Sträflinge sollen angeworben worden sein, um in der Ukraine für Russland zu kämpfen. Wie werden sie rekrutiert? Ein ehemaliger Gefängnisinsasse erzählt.

Der Entscheid, für Russlands Streitkräfte in der Ukraine zu kämpfen, mag schwer verständlich sein. Bei russischen Gefängnisinsassen kann Sergej Sawelew dies jedoch nachvollziehen. Der 33-Jährige sass wegen Drogendelikten selbst acht Jahre in Russland im Gefängnis.

«Dort leben die Menschen unter schrecklichen Bedingungen, in überfüllten und dreckigen Zellen, wo sie verprügelt und gefoltert werden. Da kann eine vermeintlich strahlende Zukunft in der Söldnergruppe Wagner als einziger Ausweg erscheinen», sagt er.

Die Versprechen mysteriöser Männer

Mit solchen Häftlingen befasst sich Sergej Sawelew derzeit täglich: Er betreibt die Hotline der russischen NGO gulagu.net, die sich für die Rechte von Häftlingen einsetzt – mittlerweile aus dem europäischen Exil. An Sawelew wenden sich Angehörige, aber auch Häftlinge selbst. Seit dem Sommer hört er immer öfter von mysteriösen Männern, die in die Strafanstalt kommen und ein Soldatenleben anpreisen.

Den Häftlingen werde die Begnadigung nach sechs Monaten Dienst versprochen, so Sawelew, dazu ein attraktiver Lohn und hohe Entschädigungen für ihre Angehörigen, sollten sie an der Front fallen. Zunächst hätten die Wagner-Leute vor allem gewalttätige Kriminelle aus den Gefängnissen geholt, so Sawelew. Inzwischen nähmen sie aber jeden. Teilweise würden Häftlinge auch zum Dienst gezwungen.

Die Rekrutierung in den Gefängnissen hat seit der unbeliebten Mobilmachung im September zugenommen. Häftlinge, so sagen Expertinnen und Experten, sähen die russischen Behörden als billige Ressource, deren Einberufung und Tod kaum Empörung auslöse.

Diese Haltung zeigt sich im Einsatz der Häftlinge an der Front, wie Sergej Sawelew ihn beschreibt. Sawelew erzählt von einer Grausamkeit, die nur schwer zu begreifen ist. Er sei sich seiner Aussagen aber sicher, sagt er: Zu seinen Quellen gehören nicht nur Angehörige und ehemalige Wagner-Soldaten, sondern auch Mitarbeiter der Polizei und des russischen Strafvollzugs. Zudem decken sich Sawelews Informationen mit den Recherchen anderer NGOs und unabhängiger russischer Medien.

Nur wenige kehren lebend zurück

«In aller Regel sind sie Kanonenfutter», sagt Sawelew. Häftlinge würden etwa in Gruppen vorausgeschickt, um auf Minenfeldern die Sprengsätze auszulösen und so den Weg freizumachen. Wer versuche, zu desertieren, werde zumeist sofort hingerichtet. «Das Leben eines Häftlings ist nichts wert», sagt Sawelew. «Für die Kommandanten sind die Häftlinge nicht einmal richtige Menschen.»

Besucher posieren gemeinsam mit Männern in Militäruniform für ein Foto vor dem PMC Wagner Center.
Legende: In der Gewaltkultur der Söldner sind Häftlinge nicht nur Opfer: Wagner-Truppen haben in der Ukraine zahlreiche Kriegsverbrechen verübt. Reuters/Igor Russak

Von der Front kehrten nur sehr wenige Gefängnisinsassen zurück, sagt Sawelew. Langsam sickere in den Gefängnissen durch, dass der Dienst bei Wagner eher ein Todesurteil als eine Chance auf Begnadigung sei. Die Söldnergruppen fänden immer weniger willige Rekruten, so Sawelew.

Wie Russland damit umgehen wird, ist ungewiss. Derzeit häufen sich Berichte, wonach Wagner auch im Ausland nach Rekruten suche. Klar ist für Sergej Sawelew nur: Die russische Armee brauche stetig frisches Kanonenfutter. Egal, woher es komme.

Echo der Zeit, 24.01.2023, 18:00 Uhr

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