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Strategie des Terrors Wie ukrainische Rettungskräfte ihr Leben aufs Spiel setzen

Sie sind nach Angriffen aus der Luft als Erste vor Ort, retten Menschen, löschen Brände. Doch sie geraten immer häufiger selbst in Gefahr.

Ein strahlender Frühlingsmorgen folgt auf eine Nacht der Zerstörung: Schon wieder hat Russland Raketen auf die südukrainische Hafenstadt Odessa abgefeuert, die zweite Nacht in Folge. Wieder sind Menschen gestorben.

Und wieder waren Maryna Averina und ihre Leute im Einsatz. Das sieht man der jungen Frau nicht an: Sie wirkt hellwach und konzentriert, als sie uns vor dem Hauptquartier des Katastrophenschutzes und der Feuerwehr der Region Odessa begrüsst. Als Erstes fragt sie: «Geht Ihr bei Luftalarm in den Schutzraum? Ja? Bravo.»

Frau vor rotem Feuerwehrwagen in der Garage.
Legende: Maryna Averina am Hauptquartier des Katastrophenschutzes und der Feuerwehr der Region Odessa. SRF

In der grossen Halle sind Feuerwehrautos parkiert, stehen dicke Stiefel, Mäntel und Schutzausrüstung bereit. Averina, die Sprecherin der Rettungskräfte, erklärt den Hintergrund ihrer Frage: In Odessa ertöne der Luftalarm sehr häufig, und leider reagierten viele nicht mehr darauf, weil sie ihr normales Leben weiterführen wollten. Das könne zu noch mehr Opfern führen – und zu noch mehr Arbeit für die Rettungskräfte.

Diese haben einen Frühling des Schreckens hinter sich. Am 2. März starben bei einem Angriff zwölf Menschen, darunter fünf Kinder. Sie seien abgehärtet, so Averina, «aber an getötete Kinder kann man sich nicht gewöhnen».

Rettungskräfte als Ziel?

Wenige Tage später, am 15. März, führten die russischen Streitkräfte einen besonders perfiden Angriff auf Odessa aus: einen sogenannten «double tap strike». Rund 15 Minuten nach der ersten Explosion schlug eine zweite Rakete ein, am exakt selben Ort. 21 Menschen starben, darunter zwei Retter, acht Helfer wurden verletzt.

Das ist ein gezielter Mord an den Helfern.
Autor: Maryna Averina Sprecherin der Rettungskräfte, Odessa

«15 Minuten – das ist genau der Zeitraum, in dem die ersten Retter vor Ort eintreffen, die Opfer versorgen und die Feuerwehr mit den Löscharbeiten beginnt», sagt Averina. «Das ist ein gezielter Mord an den Helfern.»

Kollegen am Boden liegen zu sehen, nicht zu wissen, ob sie lebten, sie nicht versorgen zu können, weil auch die Sanitäter unter Beschuss gerieten: Das sei einfach nur entsetzlich.

Psychologische Notfallhilfe

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In der Ukraine gehören Katastrophenschutz und Feuerwehr zum staatlichen Notfalldienst DSNS. Die Einsatzkräfte sind bei Luftangriffen als Erste vor Ort. In ihren Reihen arbeiten auch Taucher, Chemikerinnen, Hundeführer, Psychologinnen, aber auch Minenräumer und Sprengspezialistinnen.

Der psychologischen Betreuung kommt eine besondere Bedeutung zu: So verfügt zum Beispiel Odessa über einen Krankenwagen für psychologische Notfallhilfe. Die Ambulanz fährt bei einem Angriff sofort vor Ort, denn die Opfer erleiden in der Regel auch einen Schock. Die Ambulanz ist mit einem Bett und Stühlen ausgerüstet, die Leute können sich hinlegen, erhalten Wasser, Medikamente und werden psychologisch betreut. Der Krankenwagen der Region Odessa wurde vom Schweizer Hilfswerk namens Osteuropahilfe «Triumph des Herzens» gespendet.

Psychologische Hilfe erhalten aber auch die Rettungskräfte und Feuerwehrleute, die durch ihre schwierige Arbeit nicht nur physischen Gefahren ausgesetzt sind, sondern auch schlimme Szenen verarbeiten müssen.

Der 26-jährige Feuerwehrmann Oleksij übt seinen Beruf mit Leidenschaft aus. Aber auch er sagt: «Wenn man im Einsatz ist und erneut der Luftalarm ertönt, dann möchte man am liebsten davonlaufen. Es ist ziemlich beängstigend.» Man weiss genau, was mit Kolleginnen und Kollegen passiert ist.

Hätten wir das damals nicht getan, wären noch mehr Menschen gestorben.
Autor: Maryna Averina Sprecherin der Rettungskräfte, Odessa

Die Möglichkeiten, die Rettungskräfte zu schützen, sind begrenzt. Sie könnten theoretisch entscheiden, im Schutzraum zu bleiben, sagt Averina. «Aber wenn beispielsweise ein Hochhaus getroffen wird, wie es Ende Dezember geschah, und eingeschlossene Menschen um Hilfe bitten, dann muss man hinfahren. Hätten wir das damals nicht getan, wären noch mehr Menschen gestorben.»

Und sind die Rettungskräfte einmal vor Ort, dann sind sie so auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie es bei einer erneuten Gefahr kaum rechtzeitig in einen Schutzraum schaffen. Bleibt eine verbesserte Ausrüstung: kugelsichere Schutzweste und Helm, zusätzlich zur bereits schweren Spezialkleidung. Das schützt immerhin vor Splittern – aber nicht vor grossen Explosionen.

Immer wieder kommt es zu «double tap strikes»

Gezielte Schläge gegen Rettungskräfte sind ein Kriegsverbrechen. Die perfide Taktik des «double taps» hat Russland in Syrien perfektioniert und wurde nie dafür zur Rechenschaft gezogen. Nun führen die russischen Streitkräfte solche Angriffe auch in der Ukraine immer häufiger aus: Am 19. Mai im Umland der Grossstadt Charkiw, im April in Saporischja und in Charkiw, um nur die jüngsten Fälle – neben Odessa – zu nennen.

Das Ziel ist klar: so viele Menschen wie möglich zu töten und ein Maximum an Schrecken zu verbreiten. «Die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, das ist integraler Bestandteil der Taktik der russischen Kriegsführung», sagt der Militärbeobachter und Blogger Alexander Kovalenko.

Er lebt und arbeitet in Odessa. «Und diese Taktik setzt Russland seit Beginn der Grossinvasion praktisch täglich ein». Die ständigen Luftangriffe, die Schläge gegen die Infrastruktur, die Angriffe mit den besonders perfiden Streubomben – geschehen am 29. April ebenfalls in Odessa – all dies fällt unter diese Strategie des Terrors. Und die habe das Ziel, Panik zu säen und den Widerstandswillen der Bevölkerung zu brechen, sagt Kovalenko. Eine verzweifelte Bevölkerung soll so von der Politik verlangen, sich mit dem Aggressor zu verständigen und Konzessionen zu machen.

Angriff auf ein Parkgelände in Odessa

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Ein brennendes Schloss am Seeufer mit dicken Rauchwolken.
Legende: Das sogenannte Harry-Potter-Schloss der juristischen Akademie in Odessa. Keystone/AP Photo/Victor Sajenko

Am frühen Abend des 29. April schlug in Odessa in einem Parkgelände am Meer eine Rakete ein, deren Sprengkopf mit Streumunition gefüllt war. Abgefeuert wurde sie von der besetzten Halbinsel Krim. Das beliebte Naherholungsgebiet war belebt, Leute joggten nach der Arbeit, spazierten oder führten ihre Hunde aus. Es gibt dort einen Strand, private Häuser und sogar einen Jachtclub.

Die kleinen Bomben verteilten sich in einem Radius von rund 1.5 Kilometern, töteten sieben Menschen und verletzten über 30 weitere, darunter zwei Kinder und eine Schwangere. Ein Gebäude, das als Harry-Potter-Schloss bezeichnet wird, brannte aus.

Die Verwendung von Streubomben ist international geächtet. Sie werden aber sowohl von den russischen als auch den ukrainischen Streitkräften eingesetzt, denn sie sind militärisch effektiv. Doch mit Streubomben zivile Objekte anzugreifen, ist ein Kriegsverbrechen.

So das Kalkül, das in der Ukraine bisher nicht aufgegangen ist. Aber der Krieg ist nicht zu Ende. Und Odessa, immerhin drittgrösste Stadt der Ukraine, ist den russischen Raketen schutzlos ausgeliefert. Drohnen kann die Luftabwehr in der Regel abschiessen, aber Raketen können nur mit westlichen Luftabwehrsystemen abgewehrt werden – davon hat die Ukraine viel zu wenig. Deshalb ist zurzeit nur die Hauptstadtregion Kiew geschützt.

Am Abend nach unserem Interview schlägt in Odessa erneut eine ballistische Rakete ein, Feuerwehr und Rettungskräfte haben einen Grosseinsatz. Das Verteilzentrum eines privaten Postunternehmens wurde getroffen und brannte aus. Zum Glück überleben alle Angestellten: Sie haben rechtzeitig den Schutzraum aufgesucht.

Rendez-vous, 24.05.2024, 12:30 Uhr;kesm

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