Zum Inhalt springen

Streit um Abtreibungsrecht Liberale Polinnen streiken gegen faktisches Abtreibungsverbot

Der Protest gegen ein strengeres Abtreibungsrecht hat ganz Polen erfasst. Vielerorts streikten städtische Angestellte.

Die seit sechs Tagen andauernden Proteste gegen ein verschärftes Abtreibungsrecht in Polen haben am Mittwoch eine neue Dimension erreicht. In vielen Städten folgten Angestellte dem Aufruf der Frauenbewegung und traten in einen Streik. Am Abend sind in mehreren Städten Demonstrationen geplant.

Zur Aktion hatte die Organisation «Allpolnischer Frauenstreik» aufgerufen. Dieser richtet sich gegen einen Entscheid des Verfassungsgerichts, wonach auch Schwangerschaftsabbrüche aufgrund schwerer Fehlbildungen des ungeborenen Kindes verfassungswidrig seien. Damit würde in Polen faktisch ein Abtreibungsverbot installiert.

Öffentliche Verwaltungen nehmen Ball auf

Besonders in Stadtverwaltungen blieben Frauen der Arbeit fern, wie polnische Medien berichteten. Oft taten sie es mit ausdrücklicher Billigung ihrer Vorgesetzten. Die Oberbürgermeisterin von Polens drittgrösster Stadt Lodz, Hanna Zdanowska, postete ein Foto von ihrem leeren Schreibtischstuhl mit dem Kommentar «Bin ausserhalb des Büros».

Auch Warschaus Oberbürgermeister Rafal Trzaskowski hatte angekündigt, den Streik zu unterstützen. Er wollte Busse und Bahnen der öffentlichen Verkehrsmittel beflaggen lassen.

Alle Angestellten haben das Recht, nicht zur Arbeit zu kommen – auch die Männer.
Geschäftsinhaberin aus Warschau

In der Hafenstadt Stettin rief die Gewerkschaft die Stadtbediensteten auf, aus Solidarität mit den Demonstranten schwarze Kleidung zu tragen. In Krakau und Danzig blieben viele Studentinnen den Vorlesungen fern.

Auch in Breslau demonstrierten am Dienstagabend Tausende und blockierten die Strassen mit Autos.
Legende: Auch in Breslau demonstrierten am Dienstagabend Tausende und blockierten die Strassen mit Autos. imago images

Streiks gab es aber auch in privaten Betrieben. «Ich bin Inhaberin einer Firma. Alle Angestellten haben das Recht, nicht zur Arbeit zu kommen – auch die Männer», sagte eine Geschäftsfrau aus Warschau dem Radiosender RMF.

Frauenstreik.
Legende: Frauenstreik am Dienstag, 27. Oktober, vor dem Parlament in Warschau. imago images

Tochter des Präsidenten meldet sich zu Wort

Die Tochter und Beraterin von Präsident Andrzej Duda forderte, Frauen bei schweren Fehlbildungen des Kindes weiterhin einen Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen. Sie selbst würde sich zwar aufgrund ihrer Überzeugungen nie zu einem Abbruch entscheiden, schrieb die 24-jährige Kinga Duda am Mittwoch auf Twitter. «Aber in einer Sache, die so unglaublich schwer ist, wie die Vorstellung von der Geburt eines Kindes, das Minuten oder Stunden nach der Geburt sterben kann, sollte die Entscheidung über Fortführung oder Abbbruch der Schwangerschaft bei der Frau liegen».

Kinga Duda.
Legende: Präsidententochter Kinga Duda griff am Mittwoch mit einer Stellungnahme in die Abtreibungsdebatte ein. imago images

Eskalation nach Nazi-Vergleich im Parlament

Am Dienstag hatte eine Aussage des stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden Ryszard Terlecki von der nationalkonservativen Regierungspartei (PiS) für tumultartige Szenen im Parlament geführt. Er hatte die Blitz-Symbole auf den Masken der Oppositionsabgeordneten mit Symbolen von SS und Hitlerjugend verglichen. Oppositionelle sprangen darauf in Richtung Rednerpult und umringten die Bank mit PiS-Chef Kaczyński. Die Saalwache wurde gerufen, die Sitzung musste unterbrochen werden.

ARD-Korrespondent Jan Pallokat in Warschau

Box aufklappen Box zuklappen

Wenn die Ausnahmeregelung im polnischen Abtreibungsgesetz gemäss Verfassungsgerichtsentscheid gestrichen wird, gibt es keine Wahlfreiheit mehr. Damit können Frauen nicht mehr selbst entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen wollen, wenn ein grosser Gesundheitsschaden beim Kind zu erwarten ist.

Bereits hätten Kliniken anstehende legale Abtreibungen aus dem Terminkalender gestrichen, berichtet ARD-Korrespondent Jan Pallokat in der polnischen Hauptstadt Warschau: «Jetzt müssen betroffen Frauen schauen, was sie tun. Es sind tiefgehende Eingriffe, die sehr berühren. Die regierungskritischen Medien berichten darüber sehr detailliert. Es gibt sehr viel Tränen und Wut auch bei den Demonstrantinnen.»

Bereits 2016 gingen in Polen die Menschen wegen einer Verschärfung des ohnehin schon strengen Abtreibungsrechts auf die Strasse. Die «schwarzen Proteste» richteten sich damals gegen einen Bürgergesetzesentwurf der im Jahr zuvor siegreichen PiS-Partei.

SRF 4 News, 28.10.2020, 08:25 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel