Der Westminster-Palast ist das nationale Wahrzeichen des Vereinigten Königreichs. Kulisse für die zeremonielle Prachtentfaltung der Monarchie. Insbesondere aber das Herzstück der britischen Demokratie.
Der Alltag im Parlament ist regelmässig laut und dramatisch. Das «Orderrrrr…» des Speakers im britischen Unterhaus ist legendär. Weniger bekannt ist hingegen, wie gefährlich der Ort ist. Buchstäblich «Out of Order», erzählt Lord Robert Lisvane, der über dicke Teppiche durch die dunklen Korridore des Palastes führt.
Die jahrhundertealte Infrastruktur ist eine Zeitbombe, die in diesem Haus jederzeit eine Katastrophe auslösen kann.
«Wir sind eben durch das Empfangsgebäude des Oberhauses marschiert. Schöne, eindrückliche Räume. Und Sie fragen sich vielleicht, wo liegt das Problem?» Aber bereits einige Meter tiefer, im Keller, sehe die Welt ganz anders aus, erzählt das Mitglied des Oberhauses.
«Ich pflege von der Kathedrale des Horrors zu sprechen. Rostige Wasserleitungen, blanke Kupferdrähte, Asbest, leckende Kanalisationsröhren. Dazwischen Ratten. Kein Mensch weiss, welche Leitungen noch im Gebrauch sind und wohin sie führen.» Man habe einfach immer wieder neue verlegt. Das Betreten des Kellers sei mittlerweile selbst Parlamentarierinnen und Parlamentariern verboten. «Die jahrhundertealte Infrastruktur ist eine Zeitbombe, die in diesem Haus jederzeit eine Katastrophe auslösen kann», so Lisvane.
Kurzschlüsse, kleine Brände und herabfallende Steine
Im Westminster-Palast mit seinen 1000 Räumen und 100 Treppenhäusern kommt es regelmässig zu Kurzschlüssen und kleinen Bränden. Selbst die 650 Abgeordneten auf ihren grünen Bänken sind vor Wassereinbrüchen nicht gefeit. Die Fugen des Dachs seien seit Jahrzehnten nicht mehr dicht, erklärt Lord Lisvane und öffnet eine Balkontüre im obersten Stockwerk.
«Oh nein, die Turmfalken», seufzt der Lord. «Sie jagen einmal mehr Tauben.» Das mache ihn immer ein bisschen nervös. «Sie zerlegen die Tauben dort auf dem Turm und lassen die blutigen Knochen anschliessend auf die Touristen unten vor dem Parlament fallen.» Lästig, aber harmlos im Vergleich zu den Steinen, die in schöner Regelmässigkeit herabfallen. Die Erosion der reich verzierten, gotischen Kalksteinfassade habe ein bedenkliches Ausmass angenommen.
Der Palast beginne zu zerfallen. Als unlängst ein fussballgrosser Brocken aufs Trottoir donnerte, erinnerte die stellvertretende Parlamentsvorsitzende die werten Ratsmitglieder höflich daran, dass es unverzeihlich wäre, wenn dereinst ein Tourist erschlagen würde.
Umzug? Ausgeschlossen!
Es sei nicht so, dass man dem Geschehen tatenlos zusehe, meint Lord Lisvane. Feuerwehrleute patrouillieren Tag und Nacht durch die fünf Kilometer langen Korridore. Und ein Heer von Handwerkern repariert Rohrbrüche und jagt Ratten.
Man gebe in diesem Haus jede Woche fast 2.5 Millionen Franken für Reparaturen aus. Also rund 100 Millionen Franken pro Jahr allein dafür, «dass der Palast nicht zusammenbricht und wir die Show am Laufen halten können», wie Lisvane sagt. Doch so könne es nicht weitergehen.
Der Westminster-Palast muss saniert werden. Darüber sind sich alle einig. Eine komplette Sanierung würde gemäss Baufachleuten rund 24 Milliarden Franken kosten und 22 Jahre dauern. Während dieser Zeit müsste das Parlament in einem Provisorium ausserhalb Londons untergebracht werden. Ein Vorschlag, der viele Abgeordnete in Aufruhr versetzt.
Der Palast sei die unverbrüchliche Festung der britischen Demokratie, sagt der Konservative Sir Edward Leigh, deshalb werde er sicher nie in eine Mehrzweckhalle in der Provinz umziehen. Eine Mehrheit bevorzugt deshalb eine Sanierung in Etappen und ohne Auszug des Parlaments. Diese Variante ist ein bisschen aufwendiger. Sie würde 34 Milliarden kosten und 76 Jahre dauern.
Und woher kommt das Geld?
Angesichts der hoch verschuldeten britischen Staatskasse wird es wohl noch einige Jahre dauern, bis sich Westminster in eine Grossbaustelle verwandelt. Man werde sich wohl weiter mit den Zumutungen arrangieren – wie bisher. So wappnen sich im Winter viele Abgeordnete mit Wolldecken und Bettflaschen gegen die Kälte.
Eine Parlamentarierin habe sich gar mit den Mäusen angefreundet, erzählt Lord Lisvane. Als sich die Tiere im Korridor vermehrten, habe er sie freundlich gefragt, ob es sein könne, dass sie die Tiere füttere? «Oh ja, natürlich, meinte sie. Wenn am Mittag etwas vom Lunch übrigbleibt, stellen wir ihnen die Reste in eine Ecke des Büros, damit sie nachts etwas zu essen haben», zitiert der Lord die Tierfreundin.
Doch auch hier gibt es eine behelfsmässige Lösung: Um das Nagetierproblem in den Griff zu bekommen, bringe der Vorsitzende des Unterhauses gelegentlich seinen Kater mit ins Parlament, erzählt der Oberhaus-Abgeordnete schmunzelnd.
Wer ihm so zuhört, fühlt sich eher wie in einem skurrilen britischen Klub, als im politischen Epizentrum einer Atommacht. Doch der Westminster-Palast ist eben weit mehr als die unverbrüchliche Festung der britischen Demokratie. Er steht für einiges, was dieses Königreich ausmacht: Geschichte, Tradition, Rituale, aber ebenso Flickwerk und Zerfall.