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Symbolischer Kampf in Mariupol Was passiert mit den Kämpfern aus dem Asowstal-Werk?

Nach wochenlanger Verschanzung im Stahlwerk haben sich Hunderte ukrainische Soldaten ergeben. Ein Experte ordnet ein.

Worum geht es? Bereits seit Wochen halten sich ukrainische Soldaten im Stahlwerk Asowstal in Mariupol verschanzt. Gemäss russischen Angaben zufolge hätten sich seit Montag insgesamt 959 Kämpfer ergeben, die sich über Wochen in dem belagerten Stahlwerk verschanzt hatten, darunter seien 80 Verletzte.

Welche Bedeutung hat das Stahlwerk für die Ukraine? Das Asowstal-Werk war ein Symbol des ukrainischen Widerstandes, sagt Ulrich Schmid. Er ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. «Man hat auch gesehen, dass Präsident Wolodimir Selenski bemüht war, den Heldenstatus der Soldaten zu bestätigen, die dort ausgeharrt haben. Aus ukrainischer Sicht hätten die Kämpfer in Mariupol ihre Pflicht erfüllt. Auch der Befehlshaber habe sich zu Wort gemeldet und gesagt, es gehe jetzt darum, weiteres Blutvergiessen zu verhindern.»

Symbolik des Widerstands

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Auch wenn die restlichen Verteidiger noch aufgeben werden: «Die Symbolik dieses Widerstands kann man den ukrainischen Streitkräften nicht mehr nehmen.» Das sagt der Militärstratege Franz-Stefan Gady vom Londoner Strategieinstitut IISS. «In dieser Hinsicht ist es fast belanglos, inwiefern sich hier die Situation noch entwickeln wird, weil auf dieser wichtigen Ebene der Sieg nicht mehr genommen werden kann.» Das Stahlwerk Asowstal in Mariupol sei zum Symbol geworden für den Widerstandswillen der gesamten Ukraine.

Welche Bedeutung hat das Stahlwerk für Russland? Aus russischer Sicht stellt die Belagerung des Asowstal-Werks ein grosses Dilemma dar, sagt Schmid: «Die Russen wollten die Erfolge wie im Zweiten Weltkrieg wiederholen. In den ersten Kriegstagen wollte man die Einnahme von Kiew durch die Rote Armee wie damals im Dezember 1943 wiederholen. Die beiden grossen Kriegsschauplätze, die sich aus russischer Perspektive mit dem Asowstal-Werk verbinden, ist einerseits die Blockade von Leningrad.» Das sei ein negatives Szenario für die Russen. «Das zweite symbolische Szenario ist Stalingrad im Februar 1943. Das war die grosse Schlacht um diese von den Nazis gehaltene Stadt. Auch dort haben die Nazis sich ergeben und die Rote Armee hat gewonnen.»

Soldaten in einer Dreierreihe in Leningrad 1943.
Legende: «Während des Zweiten Weltkriegs haben die Nazis Leningrad während dreier Jahre belagert und ausgehungert. Eine Million Menschen sind dabei umgekommen», ordnet Ulrich Schmid historisch ein. imago images

Was geschieht mit den Soldaten? Die evakuierten Soldaten werden in russisch besetztes Gebiet gebracht – oder wurden es bereits. Schmid zählt zwei mögliche Szenarien auf: Auf der einen Seite könnten sie als Kriegsverbrecher angeklagt werden. «Aus russischer Sicht sind die Vertreter des Asow-Regiments alle Neonazis.» Die zweite Möglichkeit sei ein Gefangenenaustausch. Aus dem Kreml hiess es, die Kämpfer würden gemäss internationalem Recht behandelt.

Mehrere russische Soldaten und ein Panzer stehen auf einer Strasse in Mariupol.
Legende: Es gibt auch Kriegsverbrecherprozesse gegen russische Soldaten in der Ukraine. Reuters

Welche Rolle spielen die weiterhin verschanzten Kämpfer? Es sind offenbar nach wie vor Hunderte Kämpfer im Stahlwerk verschanzt. Das absorbiert russische Kräfte. Die Kämpfe um das Stahlwerk Asowstal hätten jedoch keine militärische Bedeutung mehr, sagt Schmid. «Für beide Seiten ist das ein symbolischer Machtkampf. Ich nehme an, dass auch für die eingeschlossenen Kämpfer jetzt dann eine Lösung gefunden werden wird.»

Wo wird der Krieg entschieden?

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Der Krieg werde nicht in Mariupol und wahrscheinlich auch nicht in der Region Donbass in der Ostukraine entschieden, sagt Franz-Stefan Gady vom Londoner Strategieinstitut IISS. «Der Krieg wird früher oder später vor allem auf politischer Ebene entschieden werden; wenn die eine oder die andere Seite sich letztendlich eingesteht, dass dieser Krieg nicht mehr fortgesetzt werden kann. Davon sind wir aber noch lange, lange entfernt.»

Rendez-vous, 17.05.2022, 12:30 Uhr ; 

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