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Tagebuch aus Mariupol Leben unter russischer Besatzung: «Heute habe ich nichts mehr»

Russland feiert den Wiederaufbau der besetzten ukrainischen Stadt Mariupol. Doch der Alltag dort ist Überlebenskampf.

Die verkohlte Eingangstür zu Svetlanas Wohnung steht weit offen. Hier gibt es nichts mehr zu holen. Svetlana filmt die zertrümmerten Backsteine am Boden, die herausgerissenen Fenster. Ein kaputter Herd lässt zumindest erahnen, wo früher ihre Küche war. «Zehn Jahre lang war das mein Zuhause», sagt Svetlana. «Heute habe ich nichts mehr.»

Es ist Anfang Oktober letzten Jahres. Die südukrainische Stadt Mariupol wird seit knapp fünf Monaten von den Russen beherrscht. Svetlana ist geblieben, weil ihre Mutter und ihre Schwester nicht alles zurücklassen wollten.

Für die «Rundschau» dokumentiert Svetlana ihren Alltag in der besetzten Stadt und begibt sich damit in Gefahr. Denn Russland will den Informationsfluss aus der Stadt vollständig kontrollieren. 

Putins Propagandabesuch

Ende März 2023 – Wladimir Putin steigt am Stadtrand von Mariupol aus einer schwarzen Limousine. Um ihn herum nagelneue weisse Hochhäuser, 10 Etagen, dazwischen Sportplätze. Die Bewohnenden danken ihm für den Wiederaufbau. So zeigt es zumindest ein Video auf der Website des Kremls.

Das ist alles eine Lüge! Alles eine Show!
Autor: Unbekannter Zwischenrufer in russischem Propaganda-Video

Auf einer früheren Version des Videos ist im Hintergrund eine schreiende Stimme zu hören: «Das ist alles eine Lüge, alles eine Show!» Mittlerweile wurde die Sequenz herausgeschnitten.

Die gezeigten Hochhäuser sind echt. Doch Satellitenbilder zeigen: Das Quartier ist kein Wiederaufbauprojekt. Es wurde auf einer unbenutzten Fläche am westlichen Stadtrand von Mariupol errichtet. Genau wie zwei weitere Projekte, die von der russischen Propaganda gefeiert werden.

Leben in den Ruinen

Indes wohnen viele Menschen in den Ruinen von Mariupol. Svetlana lebt wieder bei ihren Eltern. Der Wasserhahn läuft nur zwischendurch. Ihre zerstörte Wohnung bekam diesen Winter immerhin neue Fenster.

Wenn du einen russischen Pass hast, muss dein Arbeitgeber 13 Prozent Steuer auf deinen Lohn zahlen. Mit einem ausländischen Pass sind es über 30 Prozent. So will niemand Ukrainer anstellen.
Autor: Dmytro Bewohner des von Russland besetzten Mariupol

Diesen Frühling besucht Svetlana erneut ihr früheres Zuhause. Die neuen Fenster sind auch hier installiert, die Fassade intakt, die Baugeräte verschwunden. Doch drinnen hat sich nichts verändert: Svetlanas Wohnung liegt weiterhin in Trümmern und ihr Wiedereinzug somit in ferner Zukunft.

Russische Hymne in der Schule

Svetlana hat den russischen Pass beantragt, wie viele Bewohnenden. Zum Beispiel Dmytro, der gegenüber der «Rundschau» erklärt: «Wenn du einen russischen Pass hast, muss dein Arbeitgeber 13 Prozent Steuer auf deinen Lohn zahlen. Mit einem ausländischen Pass sind es über 30 Prozent. So will niemand Ukrainer anstellen.»

Dmytro filmt einen Markt, auf dem Pensionierte ihr letztes Hab und Gut verkaufen. Wer kann, arbeitet in den lokalen Fabriken.

In wiederaufgebauten Schulen von Mariupol läuft morgens die russische Hymne, wie Videos in den sozialen Netzwerken zeigen. Im Lehrplan sind noch drei Fächer vorgesehen: russische Sprache und Literatur und Mathematik. In den Gängen hängen Plakate von gefallenen Soldaten der russischen Besatzungsmacht – sie sollen Vorbilder sein, Helden.

SRF Rundschau, 21.06.2023, 20:05 Uhr

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