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Wie geht man mit der neuen Situation in Afghanistan um?
Aus Echo der Zeit vom 24.08.2021. Bild: Keystone
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Traumatisches Erlebnis «20 sinnlose Jahre» in Afghanistan – ein Kriegsveteran erzählt

20 Jahre Krieg und Chaos – und nun nichts als Reue und Resignation. Ein Veteran der US-Armee über das Chaos in Kabul.

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Menschen rennen Militärflugzeug hinterher
Aus News-Clip vom 16.08.2021.
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Die Bilder von Afghaninnen und Afghanen, die sich verzweifelt an ein bereits startendes Flugzeug zu klammern versuchen, sind um die Welt gegangen. Für viele prägen sie das Bild eines chaotischen und schlecht geplanten Abzuges der USA aus Afghanistan und haben der Regierung Biden viel Kritik eingebracht.

Es zerreisst mir das Herz, wenn ich die Bilder des Jungen sehe, der sich ans Flugzeug klammert und danach in den Tod stürzt
Autor: Timothy Kudo US-Veteran des Afghanistan-Krieges

Einer der diese Evakuierung, aber auch den Einzug der Taliban in der Hauptstadt Kabul aufmerksam verfolgt, ist Timothy Kudo. Der frühere Hauptmann der US-Marines war von 2010 bis 2011 in Afghanistan stationiert, sieben Monate die das Leben des damals 30-jährigen Mathematiklehrers prägten.

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Timothy Kudo «20 Jahre Sinnlosigkeit» in Afghanistan
aus Echo der Zeit vom 12.07.2021. Bild: Keystone
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Vor sechs Wochen schilderte er im «Echo der Zeit» seine Gedanken und Gefühle zum Entscheid Bidens, die Truppen bis Ende August vollständig abzuziehen: «20 Jahre Sinnlosigkeit und ein Krieg, in dem nichts erreicht wurde und der nicht zu gewinnen war, sind nun vorbei. Die USA hatten keine andere Wahl als sich aus Afghanistan zurückzuziehen», sagte der Kriegsveteran damals. «Es zerreisst mir das Herz, wenn ich die Bilder des Jungen sehe, der sich ans Flugzeug klammert und danach in den Tod stürzt», sagt Timothy Kudo heute.

Ich wünschte, ich hätte weniger Personen umgebracht und mehr Menschen geholfen.»
Autor: Timothy Kudo US-Veteran des Afghanistan-Krieges

Die Situation in Afghanistan lasse ihn nicht mehr los – und Nachts plagten ihn Albträume. Er hoffe insgeheim wohl noch immer, eine zweite Chance zu erhalten, um Abhilfe zu schaffen, für die Fehler, die sie während ihres Einsatzes in Afghanistan gemacht hätten. Er wünsche sich, er hätte weniger Personen umgebracht und mehr Menschen geholfen.

Timothy Kudo während seines Einsatzes in Afghanistan
Legende: Timothy Kudo (links) war vor zehn Jahren in Afghanistan stationiert. Heute möchte er vieles ungeschehen machen, was damals passierte. ZVG

Deshalb würde er alles dafür geben, wenn er jetzt wieder bei seiner alten Militäreinheit sein könnte, die derzeit den Flughafen von Kabul abzusichern versucht.

Zwanzig Jahre Lügen

Dennoch bleibe er dabei: Präsident Biden habe grundsätzlich die richtige Entscheidung getroffen. Dass er nun von früheren Entscheidungsträgern wie den Ex-Präsidenten Bush und Trump kritisiert werde, widere ihn an: «Wenn ihr Biden kritisiert», sagt Kudo an die Adresse früherer Entscheidungsträger, «dann steht auch zur Rolle, die ihr gespielt habt! Zu euren Fehlentscheiden. Und dazu, dass ihr der Bevölkerung 20 Jahre vorgelogen habt, dass alles unter Kontrolle sei.»

Sicher seien bei der Planung des Rückzugs Fehler passiert. Diese müssten nun untersucht werden. Timothy Kudo glaubt aber, dass das derzeitige Chaos am Flughafen von Kabul, also der Ansturm von Ausreisewilligen, kaum zu vermeiden war.

Krieg ist nie so sauber und geordnet, wie er in den Medien oft dargestellt wird.
Autor: Timothy Kudo US-Veteran des Afghanistan-Krieges

Für den Afghanistan-Veteranen steht der Abzug symbolisch für 20 Jahre Krieg, den die USA ohne klare Zielsetzungen geführt hätten. In einem Land, das sie bis heute nicht begreifen würden. Und viele hätten wohl eine falsche Vorstellung von der Realität in einem Kriegsgebiet, findet Timothy Kudo, der im Süden Afghanistans eine Aufklärungs-Patrouille befehligt hatte.

Die Fehler der Medien

Krieg sei nie so sauber und geordnet, wie er in den Medien oft dargestellt werde. Sondern vielmehr ein chaotischer Kampf ums Überleben, bei dem man oft nicht wisse, was man tue. Und dies zeigten im Moment die Bilder aus Afghanistan schonungslos

Die Medien-Berichterstattung der letzten Tage empfindet Timothy Kudo als sehr rechthaberisch: Schon vom ersten Tag an sei der Abzug als Katastrophe für Biden und für die USA taxiert worden. Die Medien hätten schwarz gemalt, statt abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt.

Ja, die Medien müssten dem Präsidenten kritische Fragen stellen. Sie müssten sich aber auch der Rolle bewusst sein, die sie selber gespielt hätten, sagt Kudo. Zum Beispiel, indem sie in den letzten fünf bis zehn Jahren das Thema Afghanistan weitgehend ausgeblendet hätten. «Damit erweckten sie den falschen Eindruck, dass alles okay sei.»

Der Afghanistan-Krieg in Kürze

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Kurz nach den Anschlägen der Al-Kaida am 11. September 2001 leiteten die USA mit der von ihnen angeführten Intervention «Operation Enduring Freedom» den Krieg in Afghanistan ein. Ziel der Regierung des damaligen Präsidenten George W. Bush war, die seit 1996 herrschende Taliban-Regierung zu stürzen und die Terrororganisation al-Kaida (die für die Anschläge von 9/11 verantwortliche war) zu bekämpfen. Nach der Eroberung der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte Kandahar und Kunduz im November und Dezember 2001 wurde eine Interimsregierung unter Präsident Hamid Karzai eingesetzt, die seit dem Dezember 2001 durch die internationale Sicherheitsunterstützungetruppe ISAF beschützt wurde. Ziel der von Nato- und Partnerländern gestellten Truppe war auch, den Wiederaufbau zu unterstützen. Die ISAF wurde sukzessive verstärkt, denn die Taliban verübten Anschläge. US-Präsident Joe Biden kündigte im vergangenen April den Abzug aller US-Streitkräfte aus Afghanistan bis zum 11. September 2021 an. Dem schlossen sich die anderen beteiligten NATO-Länder an. Mit der Eroberung Kabuls am 15. August ist die Macht über das kriegsgeschüttelte Land wieder in den Händen der Taliban.

Nun erklärten die Medien den Krieg in Afghanistan bereits für beendet. Doch das gelte nur für die USA, nicht für die Menschen in Afghanistan und auch nicht für Veteranen wie ihn.

Niederschreiben als Bewältigungsstrategie

Er könne nicht vergessen, was er dort getan habe, habe tun müssen, sagt der Kriegs-Veteran.

Ich werde ein Leben lang daran zweifeln, ob ich ein guter Mensch bin. Und damit hadern, dass ich nun in Sicherheit und Wohlstand leben kann, während in Afghanistan Menschen leiden, deren Angehörige ich umgebracht habe.
Autor: Timothy Kudo US-Veteran des Afghanistan-Krieges

Der Krieg habe seine Seele beschädigt. «Ich werde ein Leben lang daran zweifeln, ob ich ein guter Mensch bin. Und damit hadern, dass ich nun in Sicherheit und Wohlstand leben kann, während in Afghanistan Menschen leiden, deren Angehörige ich umgebracht habe.»

Um seine Gedanken zu ordnen, schreibt Timothy Kudo derzeit an einem Roman über seine Zeit in Afghanistan. Hofft er damit, diese Erfahrungen zu bewältigen? «Das ist schwer zu sagen», erwidert der Kriegsveteran. «Denn etwas so Chaotisches wie den Krieg erzählerisch klar darzustellen, ist eine Art Lüge, um ehrlich zu sein.» Aber es sei ein Versuch, dem Ganzen einen Sinn zu geben – oder zumindest so ehrlich wie möglich zu sagen, was passiert sei. «Und ich hoffe, dass der nächste Junge, der darüber nachdenkt, zum Militär zu gehen, es vielleicht liest und es sich vielleicht anders überlegt.»

Echo der Zeit, 24.08.2021, 18 Uhr

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