Die Bilder von Afghaninnen und Afghanen, die sich verzweifelt an ein bereits startendes Flugzeug zu klammern versuchen, sind um die Welt gegangen. Für viele prägen sie das Bild eines chaotischen und schlecht geplanten Abzuges der USA aus Afghanistan und haben der Regierung Biden viel Kritik eingebracht.
Es zerreisst mir das Herz, wenn ich die Bilder des Jungen sehe, der sich ans Flugzeug klammert und danach in den Tod stürzt
Einer der diese Evakuierung, aber auch den Einzug der Taliban in der Hauptstadt Kabul aufmerksam verfolgt, ist Timothy Kudo. Der frühere Hauptmann der US-Marines war von 2010 bis 2011 in Afghanistan stationiert, sieben Monate die das Leben des damals 30-jährigen Mathematiklehrers prägten.
Vor sechs Wochen schilderte er im «Echo der Zeit» seine Gedanken und Gefühle zum Entscheid Bidens, die Truppen bis Ende August vollständig abzuziehen: «20 Jahre Sinnlosigkeit und ein Krieg, in dem nichts erreicht wurde und der nicht zu gewinnen war, sind nun vorbei. Die USA hatten keine andere Wahl als sich aus Afghanistan zurückzuziehen», sagte der Kriegsveteran damals. «Es zerreisst mir das Herz, wenn ich die Bilder des Jungen sehe, der sich ans Flugzeug klammert und danach in den Tod stürzt», sagt Timothy Kudo heute.
Ich wünschte, ich hätte weniger Personen umgebracht und mehr Menschen geholfen.»
Die Situation in Afghanistan lasse ihn nicht mehr los – und Nachts plagten ihn Albträume. Er hoffe insgeheim wohl noch immer, eine zweite Chance zu erhalten, um Abhilfe zu schaffen, für die Fehler, die sie während ihres Einsatzes in Afghanistan gemacht hätten. Er wünsche sich, er hätte weniger Personen umgebracht und mehr Menschen geholfen.
Deshalb würde er alles dafür geben, wenn er jetzt wieder bei seiner alten Militäreinheit sein könnte, die derzeit den Flughafen von Kabul abzusichern versucht.
Zwanzig Jahre Lügen
Dennoch bleibe er dabei: Präsident Biden habe grundsätzlich die richtige Entscheidung getroffen. Dass er nun von früheren Entscheidungsträgern wie den Ex-Präsidenten Bush und Trump kritisiert werde, widere ihn an: «Wenn ihr Biden kritisiert», sagt Kudo an die Adresse früherer Entscheidungsträger, «dann steht auch zur Rolle, die ihr gespielt habt! Zu euren Fehlentscheiden. Und dazu, dass ihr der Bevölkerung 20 Jahre vorgelogen habt, dass alles unter Kontrolle sei.»
Sicher seien bei der Planung des Rückzugs Fehler passiert. Diese müssten nun untersucht werden. Timothy Kudo glaubt aber, dass das derzeitige Chaos am Flughafen von Kabul, also der Ansturm von Ausreisewilligen, kaum zu vermeiden war.
Krieg ist nie so sauber und geordnet, wie er in den Medien oft dargestellt wird.
Für den Afghanistan-Veteranen steht der Abzug symbolisch für 20 Jahre Krieg, den die USA ohne klare Zielsetzungen geführt hätten. In einem Land, das sie bis heute nicht begreifen würden. Und viele hätten wohl eine falsche Vorstellung von der Realität in einem Kriegsgebiet, findet Timothy Kudo, der im Süden Afghanistans eine Aufklärungs-Patrouille befehligt hatte.
Die Fehler der Medien
Krieg sei nie so sauber und geordnet, wie er in den Medien oft dargestellt werde. Sondern vielmehr ein chaotischer Kampf ums Überleben, bei dem man oft nicht wisse, was man tue. Und dies zeigten im Moment die Bilder aus Afghanistan schonungslos
Timothy Kudos Erinnerungen an Afghanistan
Die Medien-Berichterstattung der letzten Tage empfindet Timothy Kudo als sehr rechthaberisch: Schon vom ersten Tag an sei der Abzug als Katastrophe für Biden und für die USA taxiert worden. Die Medien hätten schwarz gemalt, statt abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt.
Ja, die Medien müssten dem Präsidenten kritische Fragen stellen. Sie müssten sich aber auch der Rolle bewusst sein, die sie selber gespielt hätten, sagt Kudo. Zum Beispiel, indem sie in den letzten fünf bis zehn Jahren das Thema Afghanistan weitgehend ausgeblendet hätten. «Damit erweckten sie den falschen Eindruck, dass alles okay sei.»
Nun erklärten die Medien den Krieg in Afghanistan bereits für beendet. Doch das gelte nur für die USA, nicht für die Menschen in Afghanistan und auch nicht für Veteranen wie ihn.
Niederschreiben als Bewältigungsstrategie
Er könne nicht vergessen, was er dort getan habe, habe tun müssen, sagt der Kriegs-Veteran.
Ich werde ein Leben lang daran zweifeln, ob ich ein guter Mensch bin. Und damit hadern, dass ich nun in Sicherheit und Wohlstand leben kann, während in Afghanistan Menschen leiden, deren Angehörige ich umgebracht habe.
Der Krieg habe seine Seele beschädigt. «Ich werde ein Leben lang daran zweifeln, ob ich ein guter Mensch bin. Und damit hadern, dass ich nun in Sicherheit und Wohlstand leben kann, während in Afghanistan Menschen leiden, deren Angehörige ich umgebracht habe.»
Um seine Gedanken zu ordnen, schreibt Timothy Kudo derzeit an einem Roman über seine Zeit in Afghanistan. Hofft er damit, diese Erfahrungen zu bewältigen? «Das ist schwer zu sagen», erwidert der Kriegsveteran. «Denn etwas so Chaotisches wie den Krieg erzählerisch klar darzustellen, ist eine Art Lüge, um ehrlich zu sein.» Aber es sei ein Versuch, dem Ganzen einen Sinn zu geben – oder zumindest so ehrlich wie möglich zu sagen, was passiert sei. «Und ich hoffe, dass der nächste Junge, der darüber nachdenkt, zum Militär zu gehen, es vielleicht liest und es sich vielleicht anders überlegt.»