Zum Inhalt springen

Türkische Flüchtlingspolitik Erdogan: «Wir werden niemanden nach Hause schicken»

Kehrtwende des Präsidenten: Syrer, Afghanen, aber auch vor dem Krieg geflohene Ukrainer dürfen in der Türkei bleiben.

Darum geht es: Letzte Woche hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in einer Rede an einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Ankara klargemacht, dass die rund 4 Millionen Menschen aus Syrien oder Afghanistan auf unbestimmte Zeit im Land bleiben dürfen. Bisher galten die Geflüchteten als Gäste, die irgendwann wieder ausreisen sollen. Die Türkei werde für immer ein Zufluchtsort für Verfolgte aus aller Welt bleiben, sagte er, und fügte hinzu: «Wir werden niemanden nach Hause schicken.» Das ist eine Abkehr von der bisherigen Flüchtlingspolitik.

Das steckt dahinter: Erdogan vollziehe diese Kehrtwende vor allen Dingen, «weil er sein Verhältnis mit der EU auf eine neue Grundlage stellen will», erklärt Thomas Seibert, freier Journalist in Istanbul. «Er braucht einen wirtschaftlichen Aufschwung im Land, und die EU ist der grösste Handelspartner der Türkei. Nur wenn er das Verhältnis zur EU wieder repariert, kann er auf einen wirklichen Aufschwung hoffen.» Deshalb, und weil Erdogan wisse, dass die EU in Flüchtlingsfragen sehr sensibel ist, mache er diesen Schritt. «Er verspricht sich viel davon.»

Vier von fünf Leuten hier wollen die Flüchtlinge wieder loswerden.
Autor: Thomas Seibert freier Journalist

Das sind die Folgen: In der Türkei selbst bedeutet Erdogans Rede schlicht die Anerkennung der Realität. In Syrien herrscht seit elf Jahren Krieg. Viele Syrerinnen und Syrer in der Türkei sind schon lange im Land, haben Arbeit gefunden. Ungefähr eine Million syrische Kinder sind in der Türkei geboren worden. Bisher habe die Politik das nicht offiziell sagen wollen, weil sehr viele Türken gegen die Flüchtlinge sind. «Vier von fünf Leuten hier wollen sie wieder loswerden», so der Journalist. Deswegen habe Erdogan bisher nicht laut ausgesprochen, was im Grunde genommen jeder wisse: «Diese Leute gehen nicht mehr nach Hause.»

Das bedeutet es politisch: Innenpolitisch ist Erdogans Rede ein Wagnis, wie Seibert sagt. «Die Opposition – wir sind hier ein Jahr vor den Neuwahlen in der Türkei – zieht über die Dörfer, mit der Ankündigung, die Syrer sofort rauszuwerfen, sobald sie an der Macht ist.» Das sei mehr Populismus als Realismus, denn das werde nicht gehen. «Die Syrer zum Beispiel besitzen keinen Ort, an den sie hingehen können.» Erdogan wolle hier einen Kontrapunkt setzen, um seine Wiederwahl zu sichern.

Mark Rutte zu Besuch bei türkischem Präsidenten

Box aufklappen Box zuklappen
Rutte und Erdogan an Podien, blicken sich an, hinten Türkeifahnen
Legende: Rutte (l.) traf diese Woche Erdogan in Ankara. Keystone

Um den Geflüchteten im Land auch eine Perspektive zu geben, braucht es einen Wirtschaftsaufschwung. Dieser würde den Türken und den Flüchtlingen nützen, er würde die Arbeitslosigkeit abbauen und die Löhne erhöhen. «Und das geht eben nur über die EU», erklärt Thomas Seibert.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte war am Dienstag zu Besuch bei Erdogan in Ankara. Erdogan lobte dabei die Niederlande als grössten Einzelinvestor in der Türkei. Rutte, einer der schärfsten Gegner der Türkei in der EU, war seinerseits voll des Lobes für die Türkei für ihre Rolle im Ukrainekonflikt. «Beide Seiten nähern sich also an», so der Journalist Seibert. Im Gespräch sei eine Modernisierung der Zollunion zwischen der Türkei und der EU. Diese habe die EU bisher hinausgezögert. «Es wäre ein Signal an internationale Investoren. Wenn sich beide Seiten da einigen würden, wäre Erdogan ein Stück weiter.»

Das ist der Zusammenhang mit der Ukraine: Die neue Haltung Erdogans gilt auch für Flüchtlinge aus der Ukraine. Auch sie dürfen im Land bleiben. Der Krieg habe diesen Sinneswandel sicherlich beschleunigt, glaubt Seibert. «Erdogan muss erkannt haben, dass ihm ein einseitiges Zusammengehen mit Russland auf die Dauer schaden wird, dass dies die Türkei isolieren wird.» Auf der anderen Seite könne er nicht ganz auf Russland verzichten: Die Türkei ist abhängig von russischem Erdgas. Und viele russische Touristen kommen in die Türkei.

Die EU ist der Schlüssel.
Autor: Thomas Seibert Freier Journalist in Istanbul

«Aber Russland kann die EU niemals als Handelspartner ersetzen. Sie ist der Schlüssel. Nur sie kann dazu beitragen, dass der Preisauftrieb besänftigt wird.» Deswegen suche Erdogan nun den Schulterschluss mit Europa. «Und deswegen will er bei der Flüchtlingsfrage anfangen», so Seibert. «Weil er weiss, dass das das Hauptinteresse der Europäer ist.»

SRF 4 News, 23.03.2022, 06:45 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel