Der winzige Lift rattert los, 45 Meter in die Tiefe. Es ist kühl, nur etwa zwölf Grad. Unten angekommen, wird eine letzte schwere Tür geöffnet. Wir betreten die Kommandozentrale. Dort setzen wir uns an die beiden Bedienkonsolen. Der Kommandant teilt mit, der Befehl zum Abschuss der Raketen sei eingetroffen, wir sollten auf seinen Befehl den Startknopf drücken und den Schlüssel umdrehen. «Volle Aufmerksamkeit – Start!»
Eine Anzeige nach der anderen leuchtet auf, ein regelmässiger, lauter Piepton ertönt. Wir haben den Befehl zum Start mehrerer nuklearer Interkontinentalraketen gegeben. Luken öffnen sich. Auf einem Monitor sehen wir, wie die Raketen losfliegen und Teile der Welt in Schutt und Asche legen.
Die Ukraine als drittgrösste Atommacht der Welt
Das ist zum Glück nur Simulation, die Bilder stammen von Tests und sind aus dem Internet zusammengefügt. Aber das Raketensilo ist echt, die Kommandozentrale auch, unser Guide, Kommandant Gennadij Fil, diente als Oberstleutnant in der Sowjetarmee. Er war jahrelang damit beauftragt, dafür zu sorgen, dass im Kriegsfall diese zerstörerischen Waffen losgeschickt werden konnten, Richtung Westen.
Heute ist Gennadij Fil pensioniert, das wenige, was von der Raketenbasis erhalten geblieben ist, ist ein Museum: das Museum der strategischen Raketenstreitkräfte. Hier in der ländlich geprägten Zentralukraine, wo nichts als Felder und Äcker sind, waren einst sowjetische Atomraketen stationiert, in sorgfältig kaschierten unterirdischen Silos und Kommandopunkten. Nach der Auflösung der Sowjetunion erbte die unabhängige Ukraine einen Teil des sowjetischen Atomwaffenarsenals. Das junge Land wurde damit die drittgrösste Atommacht der Welt.
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Bild 1 von 4. Die Schutzkleidung für die Militärs für den Fall einer atomaren Verseuchung: Theoretisch konnten sie nach dem Abfeuern der Atomraketen (und der atomaren Antwort des Gegners) 45 Tage im Raketensilo überleben. Dann wären sie gezwungen gewesen, an die verseuchte Erdoberfläche zu kriechen. Bildquelle: SRF / Judith Huber.
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Bild 2 von 4. Das Raketensilo umfasste unter anderem auch einen Ruhe- und Schlafraum für die Soldaten. Bildquelle: SRF / Judith Huber.
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Bild 3 von 4. Ein Blick in die Kommandozentrale: Hier konnten per Knopfdruck Nuklearwaffen gestartet werden. Bildquelle: SRF / Judith Huber.
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Bild 4 von 4. Der Kühlschrank zeigt exemplarisch, welche Lebensmittel den diensthabenden Raketenoffizieren zur Verfügung standen. Bildquelle: SRF / Judith Huber.
Die damalige Devise des Westens, allen voran der USA, hiess aber: nukleare Abrüstung. Moskau traute man zu, mit den gefährlichen Waffen verantwortungsvoll umzugehen, den kleineren ehemaligen Sowjetrepubliken nicht. Und so wurde die Ukraine von den Grossmächten gedrängt, ihre Atomwaffen abzugeben, und zwar an Russland.
Am 5. Dezember 1994 wurde dies mit der Unterschrift unter das sogenannte Budapester Memorandum feierlich besiegelt. Darin gaben Russland, die USA und Grossbritannien der Ukraine ein Sicherheitsversprechen für die Abgabe ihrer Atomwaffen aus sowjetischer Zeit.
Atomwaffen zur Abschreckung von Russland?
Gennadij Fil erinnert sich noch gut daran, wie es damals war in der Ukraine. «Wir waren arm und unglücklich», sagt er und erwähnt die sich verschärfende Inflation, den Kollaps der Wirtschaft, den Strommangel, die Löhne, die nicht ausbezahlt wurden. Die Ukraine, so sagt er, habe gar keine andere Wahl gehabt, als der nuklearen Entwaffnung zuzustimmen. Im Gegenzug erhielt sie Sicherheitsversprechen, westliche Kredite und russischen Kernbrennstoff für die Atomkraftwerke.
Auf die Frage, was er damals gedacht habe, als er den Befehl zur Liquidierung der Waffen erhielt, sagt der pensionierte Oberstleutnant: Wenn es um Atomwaffen gehe, gebe es keine eindeutige Antwort. Nur schon die Instandhaltung und Wartung von Nuklearwaffen kosten unglaublich viel, das sei ein sehr, sehr teures Unterfangen. Die Ukraine hätte sich das damals nie leisten können. Und Russland hätte es auch gar nicht zugelassen.
Die Wiedereinführung von Atomwaffen wäre ein harter Schlag für den Ruf der Ukraine, die sich klar auf die Seite des Völkerrechts gestellt hat.
War er vielleicht sogar froh, diese Waffen los zu sein? «Nein», meint der 64-jährige Fil, denn so paradox es klingen mag: «Atomwaffen sind dazu da, einen Krieg zu verhindern.» Hätte die Ukraine heute noch ein nukleares Arsenal, hätte Russland das Land wohl nicht überfallen.
Trotz Unterstützung keine realistische Option
Das sehen viele so. Deshalb ist die Diskussion darum, ob die Ukraine sich wieder nuklear bewaffnen soll, neu aufgeflammt. Lesia Ogryzko ist Direktorin der sicherheitspolitischen Denkfabrik Sahaidachnyi Security Center in Kiew. Sie sagt: Bei jüngsten Umfragen hätten die Menschen zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit die nukleare Option als bevorzugte Sicherheitsgarantie genannt. Bis vor Kurzem stand der Beitritt zur Nato an erster Stelle. Aber dieser wird dem Land verwehrt, und auch die Militärhilfe reicht nicht, um die russische Aggression vollumfänglich abzuwehren.
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Bild 1 von 3. Der Deckel über dem Raketensilo wiegt mehr als 30 Tonnen und soll die Rakete bei einem feindlichen Angriff schützen. Wenn die Rakete abgefeuert werden sollte, wurde der Deckel mit hydraulischen Zylindern geöffnet. Bildquelle: SRF / Judith Huber.
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Bild 2 von 3. Um einiges kleiner war eine der Ein- und Ausstiegsluken für die wachhabenden Soldaten. Bildquelle: SRF / Judith Huber.
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Bild 3 von 3. In Zeiten höherer Bereitschaft waren sechs Offiziere in einem Silo im Einsatz. Bildquelle: SRF / Judith Huber.
Ogryzko betont aber: Das sei eine rein theoretische Diskussion, eine Ukraine mit Atomwaffen sei unrealistisch. Das habe mehrere Gründe. Der erste und wichtigste: Das Land sei von internationaler Unterstützung abhängig und würde sich mit einem solchen Schritt isolieren. «Es wäre ein harter Schlag für den Ruf des Landes, das sich klar auf die Seite des Völkerrechts gestellt hat.»
Zweitens wären die Kosten viel zu hoch, und drittens habe die Ukraine zwar gut ausgebildete Spezialisten und Spezialistinnen, verfüge aber nicht über die nötige Infrastruktur, vor allem nicht über die Zentrifugen zur Urananreicherung. Deshalb werde die Ukraine weiterhin auf konventionelle Waffen setzen, so die Expertin.
Gegensteuern mit anderen Sicherheitsgarantien
Ogryzko warnt aber auch: Der Bruch der damaligen Sicherheitsversprechen sende das falsche Signal, nämlich, dass nur Nuklearwaffen echte Sicherheit bieten könnten.
Der Westen habe nur eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, so die ukrainische Expertin: die Ukraine so stark zu unterstützen, dass sie in die Lage versetzt werde, Russland zu besiegen. Dann würde man zeigen, dass das Völkerrecht doch noch existiere und es Sicherheitsgarantien gebe, ausserhalb von Nuklearwaffen.