Vitalii Glushenko, der Direktor der Wasserwerke von Pokrow, einer Kleinstadt am Rande des einstigen Stausees, erinnert sich genau an den 6. Juni 2023: «Es war fünf Uhr morgens und Panik brach aus, als in den sozialen Medien die Zerstörung gemeldet wurde.» Er verfolgte gebannt, wie der Pegelstand immer weiter sank, bis die Pumpen der Stadt buchstäblich auf dem Trockenen lagen.
700'000 Menschen blieben ohne Wasser
18 Milliarden Kubikmeter Wasser ergossen sich aus dem Stausee, töteten Menschen, zerstörten Dörfer und liessen im Einzugsgebiet des Staubeckens 700'000 Menschen ohne Wasser zurück. 200 Kilometer lang und 9 Kilometer breit war der Stausee gewesen, der grösste entlang des Dnipro, erbaut in den 1950er-Jahren.
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Bild 1 von 3. Mehrere Städte, darunter die Stadt Oleshky, wurden wegen des zerstörten Staudamms überflutet. (10. Juni 2023). Bildquelle: Keystone / AP Photo / Evgeniy Maloletka.
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Bild 2 von 3. 19 Tage hielten die Überflutungen an. Ein Mann rettet Katzen aus dem überschwemmten Hafenviertel. (9. Juni 2023). Bildquelle: Keystone / Johanna Maria Fritz, Ostkreuz, für Die Zeit.
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Bild 3 von 3. Der Stausee selbst war innert Kurzem ausgetrocknet. Ein Fotograf macht Bilder der verendeten Fische am 18. Juni 2023. Bildquelle: Keystone / AP Photo / Mstyslav Chernov.
Aller Wahrscheinlichkeit nach geht die Zerstörung auf das Konto der russischen Armee. Diese hatte den Damm besetzt und jedes Interesse daran, ihn zu zerstören, weil sie damals eine Offensive der Ukraine befürchtete.
80'000 Tonnen Schwermetalle
Die Bilder des geborstenen Damms gingen um die Welt. Expertinnen und Experten befürchteten eine Umweltkatastrophe. Die ukrainische Wissenschaftlerin Oleksandra Shumilova spricht von einer «toxischen Zeitbombe», weil rund 80'000 Tonnen Schwermetalle der Industrie am einstigen Ufer in den Sedimenten abgelagert sind.
Shumilova arbeitet am Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin und ist Co-Autorin eines aufsehenerregenden Artikels in der Zeitschrift «Science». Eine Analyse der Situation ist deshalb besonders schwierig, weil die russischen Truppen auf der anderen Seite des Dnipro, am östlichen Rand des einstigen Stausees, stationiert sind und die ukrainische Seite mit Drohnen und Artillerie beschiessen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stützen sich deshalb auf Bodenproben von vor der Sprengung und erste Erhebungen unmittelbar nach der Sprengung, Modellrechnungen und Luftbilder.
Von der Mondlandschaft zum Naturwunder
Viele Fachleute staunen: Dort, wo sich unmittelbar nach der Sprengung eine schlammige Mondlandschaft ausbreitete, ist jetzt alles grün, so weit das Auge reicht. Meterhohe Pappeln und ein Meer von Weiden erstrecken sich über eine idyllische Auenlandschaft voller kleiner Flüsse. Luftaufnahmen zeigen Fussspuren von Wildschweinen, Füchse werden gesichtet, ja sogar der Stör ist aus dem Meer flussaufwärts in die neue Naturlandschaft zurückgekehrt.
Shumilova ist zwar erfreut, aber nicht überrascht: Exakt als der Damm gesprengt wurde, hätten die Pappeln und Weiden geblüht, die Samen seien ins Wasser gefallen und überall auf dem moorigen Grund des einstigen Stausees liegen geblieben.
Das hat auch Nachteile. Denn im einstigen Reservoir haben sich Monokulturen angesiedelt: Widerstandsfähiger wäre eine vielfältige Flora, die den regelmässigen Überschwemmungen des Dnipro besser trotzen könnte. Immerhin verhindern die neuen Pflanzen, dass der toxische Boden bei Überflutungen ungehindert weggeschwemmt wird; teilweise absorbieren sie die Gifte sogar.
Doch die langfristigen Auswirkungen und die Folgen für die Nahrungskette sind offen. Mit Besorgnis hat Oleksandra Shumilova im Internet Bilder von frisch gepflanztem Gemüse am Rande des einstigen Stausees entdeckt.
Ein neuer Damm?
Die Expertinnen und Experten streiten sich, ob langfristig ein neuer Damm gebaut werden soll. Einerseits ist am Grund des einstigen Stausees – viermal so gross wie der Bodensee – eine Naturlandschaft entstanden, vergleichbar mit dem Biosphärenreservat im Donaudelta. Ein Damm würde diesen Lebensraum erneut zerstören. Andererseits sind die Menschen und die Landwirtschaft dringend auf Wasser angewiesen.
Shumilova plädiert deshalb für die Rekonstruktion verschiedener kleinerer Dämme, vor allem auch dort, wo der Dnipro immer wieder über die Ufer tritt und giftige Sedimente bei Hochwasser wegschwemmen könnte.
Pumpen im Wasser verstecken
Viel schwieriger ist die Lage der Menschen. Mit Unterstützung des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH) hat die Kleinstadt Pokrow eine Wasserleitung zu einer neuen Wasserentnahmestelle gebaut. Doch russische Drohnen und Artillerie nehmen die Infrastruktur immer wieder unter Beschuss.
«Wir überlegen, eine Grundwasserpumpe unter Wasser zu installieren, damit sie von den Drohnen nicht zerstört werden kann», sagt Maryna Peter. Die Wasserexpertin arbeitet an der Hochschule für Life Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Sie stammt ursprünglich aus der Ukraine, lebt aber seit über 20 Jahren in der Schweiz und ist im Auftrag des SKH vor Ort in der Ukraine. Angeblich unterhalten die Russen ein Trainingszentrum für Drohnenpiloten auf der anderen Seite des Dnipro, «und es kann sein, dass sie aus Spass und zu Übungszwecken die zivile Infrastruktur beschiessen», sagt Maryna Peter.
Nach der Sprengung des Damms versanken die Pumpstationen am Rande des einstigen Stausees im Schlamm. Der Dnipro kehrte in sein altes Flussbett am östlichen Ufer des Reservoirs zurück, nahe der russischen Stellungen. Die ukrainischen Wasserwerke auf der westlichen Seite des einstigen Stausees legten deshalb – auch mit Schweizer Hilfe – neue Wasserleitungen zu den zahlreichen neuen Seitenarmen des Dnipro, die sich durch den Grund des einstigen Staubeckens schlängeln. Doch zunächst nahmen diese Seitenflüsse immer wieder neue Wege. Mit Satellitenbildern kontrollierten die Expertinnen und Experten des SKH deshalb die Flussläufe, bis sie sich verstetigten.
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Bild 1 von 3. Weil der Untergrund nach der Sprengung zu schlammig war, mussten die Wasserleitungen zu neuen Wasserentnahmestellen über improvisierte Holzstege verlegt werden. Bildquelle: zvg.
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Bild 2 von 3. Eine neue Wasserleitung wird durch das ausgetrocknete Kachowka-Staubecken zu einer neuen Wasserentnahmestelle am Fluss Dnipro gelegt. Bildquelle: zvg.
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Bild 3 von 3. Die ursprünglichen Wasserentnahmestellen am Kachowka-Stausee versanken nach der Sprengung im Schlamm. Bildquelle: zvg.
Damit waren die Probleme nicht gelöst: Weil der Boden zu schlammig war, konnten die Kommunen die neuen Wasserleitungen nicht unterirdisch verlegen, sondern mussten sie über Holzstege über den moorigen Boden führen. Als der Boden trockener war, verhinderten die russischen Angriffe grössere Bauarbeiten. Wegen des ständigen Beschusses kontrollieren die ukrainischen Wasserwerke die Pumpstationen mit Kameras.
Zerfall auf einen Schlag
Weil die Wasserleitungen auf dem Boden liegen, gefriert das Wasser im Winter und die Rohre platzen, im Frühling überschwemmt der Dnipro immer wieder weite Flächen und setzt die neuen Pumpstationen unter Wasser.
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Bild 1 von 2. Im Winter froren die neuen Wasserleitungen ein. Wegen der ständigen Angriffe konnten sie nicht unterirdisch verlegt werden. Bildquelle: zvg.
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Bild 2 von 2. Seit der Kachowka-Damm gesprengt worden ist, verursacht der Dnipro, der nun durch den einstigen Stausee fliesst, im Frühling immer wieder grosse Überschwemmungen, die neuen Pumpstationen werden überflutet. Bildquelle: zvg (März 2024).
Deshalb ist die Stadt Pokrow gezwungen, alternative Quellen zu erschliessen. Doch das Wasser aus kontaminierten Flüssen und dem salzigen Boden zerstört die Aufbereitungsanlagen, die meist aus den 1960er-Jahren stammen. Maryna Peter zeigt in der Kläranlage von Pokrow einen neueren Tank aus den 1980ern, der in kurzer Zeit durchgerostet ist. Die alte Wasserinfrastruktur zerfällt wegen des Kriegs buchstäblich auf einen Schlag. Bis zu 60 Prozent des Wassers gingen verloren, sagt SKH-Expertin Maryna Peter, in der Schweiz seien es höchsten 10 bis 15 Prozent.
Noch immer kein Trinkwasser
Das Fachpersonal der Wasserwerke ist entweder geflohen oder wurde in die Armee eingezogen, und die Wasserpreise dürfen während des Krieges aufgrund eines Präsidialerlasses nicht erhöht werden. Den Kommunen fehlt gleich beides: Geld und Know-how für Reparaturen.
Und das aufbereitete Wasser ist nicht einmal trinkbar, sondern nur zum Waschen, Duschen oder Kochen zu gebrauchen. Das Schweizerische Korps für Humanitäre Hilfe (SKH) hat deshalb entlang der Front 18 sogenannte Hightech-Wasseraufbereitungsanlagen bereitgestellt, die nach dem Prinzip der Umkehrosmose funktionieren. Wer sich sauberes Trinkwasser nicht leisten kann, hat die Möglichkeit, sich an diesen Anlagen zu versorgen.
Die Natur hat sich – zumindest für den Moment – erstaunlich gut erholt. Die Menschen in der Region leiden aber massiv unter der Wasserknappheit. Die berühmten ukrainischen Sonnenblumenfelder, für viele Bauern eine Existenzgrundlage, waren im Herbst bloss noch vertrocknete, schwarze Stoppelfelder.