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Ukrainer in Russland Das zynische Kalkül des Kremls

Ukrainer und Ukrainerinnen, die auf der Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat in Russland gelandet sind, sollen Sozialleistungen und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in Russland erhalten. Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Wochenende zwei entsprechende Dekrete erlassen. Was sind die Hintergründe?

Kein anderer Ausweg als sich nach Russland bringen zu lassen, ins Land des Aggressors: Vor dieser Wahl standen in den letzten Monaten zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer, viele von ihnen aus der zerstörten Hafenstadt Mariupol. Da ihnen die Flucht auf ukrainisch kontrolliertes Territorium verwehrt war, willigten sie ein, in Busse zu steigen, die sie nach Russland brachten, um so den Raketen, den Kämpfen und dem Hunger zu entfliehen. Sie wurden überprüft – «filtriert» –, in Aufnahmezentren nach Russland gebracht und von dort übers Land verteilt. In der offiziellen russischen Lesart sind diese Menschen nicht verschleppt, sondern «freiwillig evakuiert» worden. Wie viele es sind, ist unklar: wahrscheinlich über eine Million Menschen.

Einfluss auf Propaganda und Demografie

Für viele dieser Ukrainer und Ukrainerinnen ist das ein Schock. Sie wollen keinesfalls in dem Land leben, das ihre Heimat angegriffen hat. Einigen gelingt es – auch mit Hilfe von freiwilligen russischen Helferinnen und Helfern – nach Europa zu fliehen. Andere aber bleiben notgedrungen in Russland. Sie sind zu krank, zu alt oder zu traumatisiert, um eine Flucht organisieren zu können. Oder sie sagen sich: Mein Zuhause ist zerstört, ich bleibe in Russland.

Genau diese Menschen könnten vom Angebot des Kremls profitieren und versuchen, sich eine neue Existenz in Russland aufzubauen. Die Dekrete des Kremls zeigen aber auch: Die Verschleppung von ukrainischen Staatsbürgern ist höchstwahrscheinlich zynisches Kalkül.

Die Anwesenheit ukrainischer Flüchtlinge in Russland untermauert die Propagandabehauptung, dass Russland den russischsprachigen Menschen in der Ukraine mit diesem Krieg hilft. Ausserdem hat Russland grosse demografische Probleme: Viele Gegenden sind dünn besiedelt. Jeder Neuankömmling ist willkommen. Gleichzeitig wird die ukrainische Nation ausgeblutet.

Russlands Interesse an Ukrainern im Land

Vielleicht glaubt ja Putin der eigenen Propagandabehauptung, dass alle russischsprachigen Menschen in Russland leben möchten. Da passt es gar nicht ins Bild, dass die verschleppten Ukrainer und Ukrainerinnen das völlig anders sehen. Russland ist nicht so attraktiv, wie das die Regierung zu glauben scheint.

Deshalb binden die Behörden auch die russischen Freiwilligen zurück, die den ukrainischen Geflüchteten geholfen haben, nach Europa zu fliehen. So geschehen in der Stadt Pensa: Ein Helfer wurde als ukrainische Nazi beschimpft, eine Helferin wurde von Vermummten – wahrscheinlich vom Geheimdienst – in ein Auto gezerrt, bedroht und geschlagen. Beide mussten ihre Freiwilligenarbeit einstellen. Der Kreml, so scheint es, hat ein Interesse daran, möglichst viele Ukrainer und Ukrainerinnen ins Land holen und zu behalten. Koste es, was es wolle.

Judith Huber

Osteuropa-Korrespondentin

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Vor ihrer Tätigkeit als Osteuropa-Korrespondentin war Judith Huber als Auslandredaktorin tätig. Sie war zudem jahrelang Produzentin der Sendung «Echo der Zeit» von Schweizer Radio SRF. Judith Huber ist spezialisiert auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion und ist Sonderkorrespondentin für die Ukraine.

SRF 4 News, 27.08.2022, 18 Uhr

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