Zuerst wurde er eines Überfalls beschuldigt. Dann kam Autodiebstahl dazu, später Mord. Paulo da Silva Costa konnte nicht glauben, was ihm alles zur Last gelegt wurde. Er sass längst im Gefängnis, da kamen weitere Anklagen hinzu. Insgesamt 62 Verbrechen sollte der 38-Jährige begangen haben, einige davon zeitgleich an verschiedenen Orten.
Allen Fällen war etwas gemein: «Es gab keine Beweise, nur die Aussage eines Opfers oder von Zeugen. Diese glaubten, mich auf einem Foto zu erkennen, das die Polizei ihnen auf der Wache zeigte, im Verdächtigenalbum. Das Foto hatte ich mal bei Social Media hochgeladen», erzählt Paulo da Silva Costa.
Es ist ein übliches Vorgehen der Polizei in Brasilien: Unter Verdächtigenbilder mischen die Beamten beliebige Fotos, die sie aus dem Internet herunterladen, um Zeugen oder Opfern mehr Bilder vorlegen zu können. Wie wenig zielführend dies ist, zeigt der Fall des US-Schauspielers Michael B. Jordan: Die Polizei mischte sein Porträt unter Fotos von Verdächtigen. Jordan wurde prompt von Zeugen eines Mordes in Nordbrasilien beschuldigt.
Junge Schwarze aus den Favelas am häufigsten betroffen
Eine Kommission im Bundesstaat Rio de Janeiro beschäftigte sich vor Kurzem mit der umstrittenen Polizeipraxis. Die Kommissionsvorsitzende Renata Souza erklärt SRF im Interview: «Manche Richter nehmen die vermeintliche Identifizierung anhand eines Fotos als einzigen Beweis als Grundlage für ihr Urteil. Wenn ein Unschuldiger im Gefängnis ist, ist der Schuldige frei und kann weitere Verbrechen begehen.»
Sie berichtet von mindestens 73 unschuldig Verurteilten seit 2012 – allein im Staat Rio de Janeiro. «83 Prozent derer, die unschuldig verhaftet und verurteilt wurden, aufgrund nur eines Fotos, waren junge Schwarze aus den Favelas. Die Identifizierung anhand eines beliebigen Fotos war der einzige Beweis gegen sie.»
Immer wieder berichten die brasilianischen Medien über solche Fälle. Etwa über den von Danilo Félix, einem Sozialarbeiter, der die ersten Schritte seines Sohnes verpasste, weil er 55 Tage unschuldig im Gefängnis sass. Oder Luis Carlos Justino, einem Cellisten, der nach vier Tagen aus der Untersuchungshaft freigelassen wurde.
Mehr als drei Jahre unschuldig im Gefängnis
Paulo da Silva Costa hatte weniger Glück: Drei Jahre und drei Monate dauerte es, bis er endlich frei kam. Paulos Schwester erreichte, dass die Anwälte der Ombudsstelle sich seines Falles annahmen. «Ich dachte, ich komme nie wieder raus. Doch die Anwälte stellten schnell fest, wie absurd die 62 Anschuldigungen waren, ich konnte die Taten nicht begangen haben», sagt da Silva Costa. Sein Fall ging bis vors Oberste Gericht in der Hauptstadt Brasilia, das seine Freilassung und eine Revision der Urteile anordnete.
Nach der Zeit im Gefängnis steht da Silva Costa vor dem Nichts: Der Job als Hausmeister ist weg, die Freundin auch. Zuerst wollte er kein Interview geben, aber dann überlegte er es sich anders: «Es muss sich etwas ändern. Die Polizei muss recherchieren, sie macht es sich zu einfach!»