In der serbischen Hauptstadt Belgrad haben sich in der Nacht auf Mittwoch Hunderte Demonstranten Scharmützel mit der Polizei geliefert. Der Protest richtete sich gegen eine am Dienstagabend angekündigte Ausgangssperre im von einer zweiten Corona-Welle erfassten Land. Am Mittwochabend wurde die Ausgangssperre dann wieder zurückgenommen. Journalist Thomas Roser zur Situation in Serbien und Belgrad.
SRF News: Wie ist die Situation in Belgrad am Tag nach den Ausschreitungen?
Thomas Roser: Jetzt ist es ruhig. Die Krawalle dauerten bis 3 Uhr nachts, für heute Nachmittag sind neue Proteste angekündigt.
Weshalb ist die Stimmung in Serbien derart aufgeheizt?
Es ist nicht nur die Wut über die von Präsident Aleksandar Vucic fürs Wochenende verordnete Ausgangssperre (Anmerkung der Redaktion: Am Mittwochabend gab Präsident Vucic bekannt, dass die Ausgangssperre doch nicht in Kraft trete) , welche die Leute auf die Strasse treibt.
Aus gewissen Regionen werden steigende Todeszahlen gemeldet, die nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen.
Seit Wochen verkündet die Regierung, dass die Lage unter Kontrolle sei, dabei sind die Spitäler überfüllt mit Corona-Patientinnen und -Patienten. Tests sind kaum mehr erhältlich. Auch werden aus gewissen Regionen steigende Todeszahlen gemeldet, die sich in den offiziellen Statistiken nicht wiederfinden.
Was werfen die teils wütenden Demonstranten der Regierung vor?
Vucic habe die Präventivmassnahmen fahrlässig ausser Kraft gesetzt, um die Wahlen am 21. Juni durchzuführen, sagen sie. Um diese Politik zu vertuschen und der Bevölkerung die Schuld für die neue Infektionswelle zuzuschieben, habe er das Versammlungsverbot auch für Fussballspiele oder Tennisturniere aufgehoben, heisst es. Unabhängige Epidemiologen sagen überdies, dass die Infektionszahlen vor den Wahlen von der Regierung bewusst nach unten korrigiert wurden.
Laut unabhängigen Epidemiologen wurden die Infektionszahlen vor den Wahlen bewusst nach unten korrigiert.
Was ist an den Vorwürfen dran, Vucic selber habe jetzt die gewaltsamen Proteste inszenieren lassen?
Diese Theorie kursiert auch in den sozialen Medien. Demnach könnte Vucic die Proteste dazu nutzen, um den Ausnahmezustand wieder einzuführen. Tatsächlich ist in Serbien vieles möglich. Unter den Protestierenden waren denn auch auffallend viele junge Personen aus der Hooliganszene mit nationalistischen Parolen unterwegs. Allerdings scheint der Regierung nicht nur in der Coronakrise zunehmend die Kontrolle zu entgleiten, sondern auch auf der Strasse.
Stehen Belgrad also unruhige Tage bevor?
Es kommt darauf an, wie Vucic reagiert, ob er allenfalls die Ausgangssperre doch nicht verhängt. Der Geist scheint allerdings aus der Flasche zu sein, die Leute sind so wütend, dass sie jetzt nicht einfach nach Hause gehen und dort herumsitzen.
Serbien scheint mit der Coronakrise überfordert zu sein. Wie erklären Sie sich das?
Es gibt verschiedene Gründe. Einer davon ist die Aufhebung des Versammlungsverbots vor den Wahlen, ein weiterer war die Ansetzung der Prüfungen für die Studenten noch vor den Sommerferien. So kamen die jungen Leute zurück in ihre engen Studentenquartiere, was die Virusübertragung begünstigte. Zudem haben die Familienfeiern zum Ende des Ramadans die Ausbreitung in den muslimischen Regionen Serbiens begünstigt – wie übrigens auch in Kosovo.
Die Leute haben die Corona-Massnahmen nicht verinnerlicht.
Hinzu kommt, dass die Massnahmen gegen Corona von den Leuten in Serbien nicht verinnerlicht wurden. Sobald der Ausnahmezustand vorbei war, verhielten sie sich wieder, wie wenn nichts gewesen wäre. Dabei waren die Politiker nicht wirklich gute Vorbilder.
Das Gespräch führte Manuel Ramirez.