In verschiedenen Gefängnissen in der nordbrasilianischen Stadt Manaus sind diese Woche 40 Häftlinge getötet worden – alle erstickt, wie die Behörden mitteilen. Bereits am letzten Wochenende waren in Manaus 15 Gefängnisinsassen ums Leben gekommen. Für die NZZ-Journalistin Nicole Anliker ist es kein Zufall, dass die Aufstände erneut in Manaus stattfinden.
SRF News: Gab es keine Aufsicht oder Polizei, die das Massaker hätte verhindern können?
Nicole Anliker: Die gab es ganz sicher. Die Revolte startete mitten in der Besuchszeit, als viele Familien anwesend waren.
Man darf nicht vergessen, dass die Gefängnisse die besten Rekrutierungszentren sind.
Die Polizei hat zu den Ausschreitungen vom Montag erklärt, dass sie das Schlimmste habe verhindern können. Man habe sehr schnell eingreifen können und etwa 200 weitere Opfer vor dem Tod retten können.
Weshalb gehen die Häftlinge in Brasilien aufeinander los?
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft steckt ein interner Streit zwischen zwei Fraktionen dahinter, Fraktionen der kriminellen Organisation «Familia do Norte». Offenbar gab es einen Riss zwischen verschiedenen Anführern. Die 15 Toten vom Sonntag sind ausschliesslich von der einen Seite. Das ist etwas Symbolisches. Diese Tötungen widerspiegeln die Übernahme einer Strafanstalt als eine Art Machtdemonstration in Bezug auf das Verbrechen im Amazonasgebiet.
Es geht also um die Kontrolle des Drogenhandels?
Brasiliens Gefängnisse sind eine Art Schauplatz für die Macht und das territoriale Kampffeld der kriminellen Banden. Man darf nicht vergessen, dass die Gefängnisse die besten Rekrutierungszentren sind, viele Anführer der Banden sind dort. Die «Familia do Norte» ist im Kokain- und Cannabishandel aktiv, man weiss, dass sie mit Peru und Kolumbien zusammenarbeitet. Die Organisation hat früher zudem mit den Farc-Rebellen zusammengearbeitet. Seit dem Friedensprozess arbeitet sie nun mit den übrig gebliebenen Farc-Dissidentengruppen zusammen, um das Kokain weiterverschiffen zu können.
Ist es somit kein Zufall, dass die Massaker allesamt in der Stadt Manaus, nahe der kolumbianischen Grenze, stattgefunden haben?
Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas in dieser Region passiert. 2017 kamen im gleichen Gefängnis wie am Sonntag über 56 Menschen ums Leben, über einen Zeitraum von drei Wochen zusammengerechnet waren es im Nordosten Brasiliens gar 150 Tote.
Niemand hat damit gerechnet, dass die Mitglieder innerhalb einer Organisation aufeinander losgehen.
Auch damals war die «Familia do Norte» involviert. Eine konkurrierende Organisation, die ursprünglich aus Sao Paulo stammte, wollte ihr Territorium Richtung Norden ausdehnen und kam der Familie in die Quere.
Diese Drogenbanden haben also die Kontrolle über die Gefängnisse übernommen?
In sehr vielen Gefängnissen ist das effektiv so. Es gibt viel zu wenige Gefängnisse in ganz Brasilien. Die letzten Erhebungen von 2015/2016 ergaben, dass es doppelt so viele Häftlinge wie Haftplätze gibt. Die kriminellen Banden haben einen Rekrutierungsort und gleichzeitig existiert die Korruption.
Was macht die Regierung von Jair Bolsonaro gegen diese Überbelegung?
Bis jetzt wurde nichts angekündigt. Justizminister Sergio Moro hat eine Spezialeinheit in Haftanstalten geschickt. Man versucht, die verschiedenen Gruppen nicht zu durchmischen. Niemand hat aber damit gerechnet, dass die Mitglieder innerhalb einer Organisation aufeinander losgehen.
Kann man von einer Krise in Brasiliens Gefängnissen sprechen?
Ja, sogar der Gouverneur des Gliedstaates Amazonas hat von einer solchen gesprochen. Es sei eine nationale Krise und ein Grundproblem. Es braucht eine grundsätzliche Reform dieses ganzen Systems.
Das Gespräch führte Romana Costa.