Es ist kurz vor 12 Uhr in der 3. Sekundarstufe im Nidwaldischen Ennetbürgen. Herman Subornyi büffelt Technik und Umwelt – auf Deutsch. Der 15-jährige Junge aus der Ukraine ist seit neun Monaten in der Schweiz und besucht hier im Dorf zusammen mit Schweizer Kindern regulär die Schule.
Ich möchte einfach Ruhe haben, arbeiten und Geld verdienen.
Was ihn aber von seinen Klassenkameradinnen und -kameraden unterscheidet: Er wird nach dem Mittag nicht direkt zurück in den Unterricht kommen, sondern Zuhause bleiben, um am Fernunterricht in seinem Heimatland, der Ukraine, teilzuhaben. Denn diesen besucht er seit letztem Herbst wieder täglich. Ein Muss, denn ohne würde er die grosse Abschlussprüfung für das ukrainische Diplom in einem Jahr nicht bestehen.
Dabei möchte der Jugendliche eigentlich in der Schweiz bleiben und hier die Schule besuchen. In Ennetbürgen wird er gefördert, sei es im Fussball oder bei seinem Ziel, Physiotherapeut zu werden. «Ich möchte einfach Ruhe haben, arbeiten und Geld verdienen», sagt er. Doch der Schutzstatus S besagt, dass er zurückmuss, sobald der Krieg vorüber ist. Ein Szenario, das jederzeit eintreten kann.
70 Prozent nehmen am ukrainischen Fernunterricht teil
Von diesem Schicksal sind viele weitere von den rund 13’600 ukrainischen Kindern betroffen, die mittlerweile in der Schweiz zur Schule gehen. Eine aktuelle Studie der Pädagogischen Hochschule Zug hat ergeben, dass etwa 70 Prozent nach wie vor am Fernunterricht in der Ukraine teilnehmen und gleichzeitig noch die reguläre Schule und den Deutschunterricht in der Schweiz besuchen. Ein Drittel davon gibt sogar an, bis zu 15 Stunden pro Woche in den Fernunterricht zu investieren.
Das führe zu einer Doppelbelastung, sagt Stephan Huber, Forschungsleiter der Studie. Für die Kinder sei es wichtig, neben der Schule auch Freizeitaktivitäten wie Sport oder Musik nachzugehen. Diese seien förderlich für die Integration und könnten den Kindern, die oft aus gepackten Koffern leben, ein Stück weit das Gefühl von Normalität vermitteln.
Heikle Balance zwischen Integration und Isolation
Herman Subornyis Schule in Ennetbürgen schafft diese Balance. Das Schulpersonal hat sich dort Zeit genommen, um für die Schülerinnen und Schüler Stundenpläne zu erstellen. Gemäss Stephan Huber, dem Forschungsleiter der Studie, ist das jedoch nicht der Normalfall. So hat die Studie auch ergeben, dass ein Grossteil der Lehrerinnen und Lehrer zwar für eine Integration der Schulkinder ist, gleichzeitig aber auch befürwortet, die ukrainischen Kinder in «Geflüchtetenklassen» zu unterrichten, bis sie wirklich Deutsch gelernt haben. So würden sie jedoch von den anderen isoliert und die Integration wäre erschwert.
Herman Subornyi hat mittlerweile ein Zuhause in Ennetbürgen gefunden. Er versucht hier, so gut wie möglich seinem Fussballtraining nachzugehen und Freundinnen und Freunde zu treffen. Auch mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Heimatland hat er noch Kontakt, nur sind sie verteilt in Europa – einige in Polen, in Deutschland oder Tschechien. Seine Eltern sind wieder zurück in der Ukraine, um zu arbeiten, wünschen sich jedoch für ihren Sohn, dass er sich in der Schweiz ein gutes Leben aufbauen kann. Sofern der Krieg nicht bald endet.