Das lebendige Chicagoer Quartier Little Village wird seit Jahrzehnten von mexikanischen Einwanderern geprägt: Aus den Läden dringt Latino-Musik, an vielen Stellen ist die mexikanische Fahne zu sehen, an Strassenständen werden Früchte verkauft. Latinos machen etwa ein Drittel der Bevölkerung Chicagos aus.
Im Little Village befindet sich auch das neue Büro einer Organisation, die Venezolanerinnen und Venezolanern hilft. Millionen haben der Diktatur von Nicolás Maduro bereits den Rücken gekehrt.
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Bild 1 von 3. Das Little Village wird seit Jahrzehnten von mexikanischen Einwanderern geprägt. Es heisst, Migranten hätten auch hier Angst, auf die Strasse zu gehen. Bildquelle: SRF / Andrea Christen.
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Bild 2 von 3. Chicago gilt als sehr segregierte Stadt. Die vielen Läden, die in Little Village auf Spanisch angeschrieben sind, zeugen davon, wie konzentriert Latinos in einigen Quartieren leben. Bildquelle: SRF / Andrea Christen.
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Bild 3 von 3. Geldüberweisungen ins Ausland, preist ein Geschäft an in einem Stadtteil, in dem viele noch Familie in Lateinamerika haben. Bildquelle: SRF / Andrea Christen.
In den letzten Jahren kamen Hunderttausende Venezolaner auch in die USA, teils ohne gültige Papiere, teils legal. So wie Yoleynis Gil: Die junge Frau sitzt in den unscheinbaren Räumen der «Illinois Venezuelan Alliance» und ist bereit, ihre Geschichte zu erzählen.
Eine gefährliche Flucht in die USA
Gil stammt aus einem armen Teil der venezolanischen Hauptstadt Caracas, in dem die «Colectivos», bewaffnete Gruppen, die das Regime unterstützen, den Ton angeben. Wer dort ein eigenes Geschäft eröffnen wolle, müsse Schutzgeld bezahlen. «Wir hatten kein Geld und wurden bedroht», erklärt Gil. Wahlen standen bevor – und ihr und ihrem Mann sei angedroht worden, dass ihnen die Nahrungsmittelhilfe oder die Sozialleistungen gestrichen würden, sollten sie nicht für die Regierung stimmen.
Im Frühling 2024 floh Yoleynis Gil, mit ihrem Mann und der kleinen Tochter. Der Weg führte ins Nachbarland Kolumbien, dann zu Fuss und per Bus durch den dichten Dschungel des berüchtigten «Darién Gap» nach Panama und weiter bis nach Mexiko, wo die Familie von einem Drogenkartell entführt worden sei. Migranten wie sie seien auf der gefährlichen Reise den Kartellen ausgeliefert und würden in einer Art Hühnerstall festgehalten. Nur gegen Bezahlung wurde die Weiterreise erlaubt.
Weil sie legal in die USA gelangen und Asyl beantragen wollte, musste sie sich über eine spezielle Handy-App registrieren und wartete in Mexiko etwa ein halbes Jahr, bis der US-Grenzschutz ihr endlich einen Termin gewährte. Im November durfte Gil einreisen – noch rechtzeitig, bevor Donald Trump wieder das Präsidentenamt antrat und es praktisch unmöglich machte, Asyl zu beantragen.
Ein Leben in Chicago – voller Unsicherheit
Gil und ihre Familie reisten nach Chicago, wo bereits eine Tante lebte. Sie ist eine von Zehntausenden Venezolanerinnen und Venezolanern, die in den letzten Jahren in die drittgrösste US-Stadt kamen – viele von ihnen mit Bussen, die Texas’ Gouverneur Greg Abbott schickte. Seit 2022 liess der Republikaner Abertausende Migranten in nördliche Metropolen bringen.
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Bild 1 von 3. Ein Aufnahmezentrum für Migranten in Brownsville, Texas (21.10.2023). Das republikanische Texas schickte Zehntausende Migranten mit Gratisbussen nach Chicago, New York, Denver und in andere von Demokraten regierte Städte. Bildquelle: REUTERS / Carlos Barria.
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Bild 2 von 3. Ein Venezolaner wartet beim Pick-Up-Point für den Gratisbus von Brownsville, Texas, nach Chicago (22.10.2023). Bildquelle: REUTERS / Carlos Barria.
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Bild 3 von 3. Im April 2022 begann der republikanische Gouverneur von Texas, Tausende von Migranten in die nördlichen Städte zu schicken. Bildquelle: REUTERS / Paul Ratje.
Die hohe Zahl illegaler Einwanderer führte unter Präsident Joe Biden zu einer Krise an der Grenze. Abbotts Busaktionen brachten auch Städte wie Chicago an ihre Belastungsgrenzen. Neuankömmlinge mussten in Chicago, wo die Winter bitterkalt werden, teils in Polizeistationen übernachten. Präsident Biden versuchte, Abhilfe zu schaffen, indem er es Hunderttausenden Venezolanern mit einem temporären Schutzstatus («TPS») erlaubte, vorerst legal im Land zu leben und zu arbeiten.
Yoleynis Gil und ihr Mann dürfen im Land bleiben, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist, was im überlasteten US-Asylwesen Jahre dauern kann. In der Zwischenzeit versuchen sie, sich ein Leben aufzubauen: Gil fand Arbeit in einem Restaurant, ihr Mann fährt für Uber.
Doch die Bürokratie bleibt ein Hindernis. Ihre Arbeitserlaubnis wurde ihnen zeitweise entzogen – mit Folgen. «Wer so wie wir ins Land kommt, verschuldet sich hoch», sagt Gil. Als sie die Arbeitserlaubnis verloren, waren sie gerade dabei, ihre Schulden abzubezahlen. «Wir sind umgezogen, haben Miete und Nebenkosten bezahlt», erzählt sie. Ihre Tochter werde in Chicago eingeschult.
Venezolaner im Visier von Trumps Migrationspolitik
Zur Bürokratie kommen die aggressive Rhetorik und das harte Vorgehen gegen Migranten, die seit Jahren ein Kernstück von Trumps Politik sind. «Sanctuary Cities» wie Chicago attackiert der Präsident besonders hart. In den von den Demokraten regierten «Zufluchtsstädten» leben viele Migranten, und der lokalen Polizei ist es höchstens teilweise erlaubt, mit der Migrationsbehörde ICE zusammenzuarbeiten, die mit Razzien papierlose Migranten aufspürt.
Ich habe Angst, dass sie meinen Mann und mich festnehmen, während meine Tochter in der Schule ist.
Trump behauptet, die Kriminalität in diesen Städten sei ausser Kontrolle, und drohte sogar, die Nationalgarde in Chicago einzusetzen. ICE baut die Aktivitäten in Chicago aus, wie es von der US-Ministerin für innere Sicherheit Kristi Noem heisst. Medienberichten zufolge erwägt Trumps Regierung, eine Marinebasis nördlich von Chicago für Einsätze von ICE und möglicherweise der Nationalgarde zu nutzen.
Venezolaner dürften besonders im Visier sein. Noch 2015 erklärte Trump, Mexiko schicke Vergewaltiger in die USA. Heute behauptet er, das Regime in Venezuela entlasse Häftlinge, um Kriminelle in die USA zu schicken – ohne Belege vorzulegen. Einige Venezolaner wurden von US-Behörden nach El Salvador in ein berüchtigtes Gefängnis gebracht, weil sie angeblich einer kriminellen Bande angehörten.
Zigtausenden Venezolanern droht eine Ausschaffung
Den temporären Schutzstatus TPS, den Biden eingeführt hatte, hat die Trump-Regierung teilweise schon im Frühling beendet; für andere Venezolaner läuft er demnächst aus. Das stösst auf Zustimmung bei Charles «Chuck» Hernandez: «Wir haben in Chicago eine echte Finanzkrise», so Hernandez, der in Chicago die Republikanische Partei leitet, zum Fernsehsender PBS. «Die Steuergelder, die wir für Migranten ausgeben, die temporär hier sind, sollten den Bürgern zugutekommen.»
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Bild 1 von 3. Eine Mutter wartet auf ihren Mann. Dieser spricht mit einem Anwalt über einen ICE-Termin zu seinem Migrationsstatus. (15.6.2025). Bildquelle: REUTERS / Octavio Jones.
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Bild 2 von 3. Es kommt auch immer wieder zu Protesten wegen der Ausschaffungen. (Bild: Der US-Kongressabgeordnete Danny K. Davis auf einer Pressekonferenz vor einer ICE-Einrichtung, 18.6.2025). Bildquelle: REUTERS / Octavio Jones.
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Bild 3 von 3. Mehrere Migranten werden am 20. Juni 2025 in der ICE-Haftanstalt in Broadview, Illinois, in Transporter verladen. Bildquelle: REUTERS / Octavio Jones.
So oder so bedeutet das Ende von «TPS» für Zigtausende Venezolaner den Verlust des legalen Status und womöglich eine Ausschaffung, falls es nicht noch auf dem Gerichtsweg gestoppt wird. Immer wieder ist zu hören, Migranten hätten Angst, das Haus zu verlassen. «Es fühlt sich an, als ob man ständig gejagt wird», so Ana Gil Garcia, die die «Illinois Venezuelan Alliance» leitet. Sie meint damit die Angst, ICE ins Netz zu gehen und in einer der Haftanstalten für Migranten zu landen, die wegen problematischer Haftbedingungen kritisiert werden.
Selbst Yoleynis Gil, die legal im Land ist, kennt das Gefühl der Unsicherheit. Sie schaue durch das Guckloch ihrer Tür, bevor sie das Haus verlasse, blicke draussen nach links und rechts, erzählt sie. Bevor sie den öffentlichen Verkehr nehme, beobachte sie die Haltestelle aus der Distanz. «Ich habe Angst davor, dass sie meinen Mann und mich zusammen festnehmen – während meine Tochter in der Schule oder in der Kindertagesstätte ist.»
Die schwierige Entscheidung: ausharren oder zurückkehren?
Auch eine mögliche Rückkehr nach Venezuela macht Yoleynis Gil Angst. Die Situation im Land habe sich nicht gebessert. Ausserdem müsse sie an ihre Familie denken, die immer noch in Maduros Diktatur lebt: «Meine Rückkehr aus den USA könnte für sie riskant sein – und für meinen Mann und mich», sagt sie. Sie befürchte politische Verfolgung, nur schon, weil sie das Land in Richtung USA verlassen habe.
Trumps Migrationspolitik setzt Venezolaner aber zunehmend unter Druck, die USA freiwillig zu verlassen. Die Zahl der sogenannten Selbstdeportationen nehme wohl zu, beobachtet Ana Gil Garcia. Viele Venezolaner würden in den USA unter Präsident Trump gar Parallelen zu ihrer Heimat sehen: «Wir haben den Film, der sich in den USA abspielt, schon einmal gesehen», sagt Gil Garcia, eine emeritierte Professorin, die selbst aus Venezuela stammt. Das Land war eine Demokratie, bevor Hugo Chávez und sein Nachfolger Nicolás Maduro ein zunehmend autoritäres Regime installierten.
Viele Venezolanerinnen und Venezolaner stehen vor einer schwierigen Entscheidung: in den USA ausharren oder in eine Diktatur zurückkehren, in der politische Verfolgung, Armut und wirtschaftliche Not drohen. In den USA leben sie mit den Auswirkungen einer Politik, die Migranten unter Druck setzt – und mit dem Gefühl, dass ihre Zukunft unsicher bleibt.