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Krieg der Worte im Nahen Osten
Aus Echo der Zeit vom 04.11.2023. Bild: Keystone
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Verbrechen im Nahostkonflikt Wann von Völkermord die Rede ist und wann nicht

Immer wieder wird von Genozid gesprochen – auch im Nahostkonflikt. Doch sind die Vorwürfe gerechtfertigt? Ein Überblick.

Auf dem Bundesplatz in Bern haben sich am Samstag mehrere tausend Menschen zu einer propalästinensischen Kundgebung versammelt. Neben der Verurteilung des «rücksichtslosen Angriffs Israels» verurteilten die Teilnehmenden auch einen angeblichen «Genozid». Was Begriffe wie «Genozid», «Völkermord» und «Kriegsverbrechen» genau bedeuten, erklärt Völkerrechtsexperte Oliver Diggelmann.

Menschen demonstrieren im Regen mit Schildern und Fahnen.
Legende: Heftige Vorwürfe an die Adresse Israels an der Palästina-Demonstration am Samstag in Bern. KEYSTONE/Anthony Anex

Was ist ein Genozid? Genozid – auch Völkermord – ist eines der Kernverbrechen im Völkerrecht. Es ist ein Verbrechen, welches das Völkerrecht selbst und nicht erst die einzelnen Staaten unter Strafe stellt. «Dabei ist das Merkmal von Genozid die Absicht, eine beispielsweise ethnische oder nationale Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten», erklärt Diggelmann. Dabei kommt es nicht auf die Anzahl der Opfer an. Entscheidend ist, ob die Verantwortlichen die Absicht haben, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.

Völkermord im Schweizer Strafrecht

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Art. 264 des Schweizerischen Strafgesetzbuches

Mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren wird bestraft, wer, in der Absicht, eine durch ihre Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder ethnische, soziale oder politische Zugehörigkeit gekennzeichnete Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten:

  • a. Mitglieder dieser Gruppe tötet oder auf schwerwiegende Weise in ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit schädigt;
  • b. Mitglieder der Gruppe Lebensbedingungen unterwirft, die geeignet sind, die Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten;
  • c. Massnahmen anordnet oder trifft, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
  • d. Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt oder überführen lässt.

Geschieht im Nahen Osten gerade ein Völkermord? «Ich sehe auf der Ebene der politischen Führung zwar einen entsetzlichen Langzeit-Territorialkonflikt», meint der Experte, «aber ich sehe aktuell auf der Ebene der Policy – der konkreten politischen Ziele – keine genozidale Absicht im Sinne des Völkerrechts.» Auf der einen Seite wolle die Hamas nämlich hauptsächlich das Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer; das jüdische Volk sei der Gruppe gleichgültig, soweit es diesem Ziel nicht im Wege steht. Auf der anderen Seite gehe es Israel um Sicherheit, allenfalls um Vergeltung. «Was aber nicht ausschliesst, dass es im Kleineren durchaus zu Verbrechen kommt, die dann von einer solchen Absicht getragen sind.»

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Archiv: Ist die Isolation des Gazastreifens völkerrechtswidrig?
aus Rendez-vous vom 11.10.2023. Bild: IMAGO / APAimages
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Worin besteht der Unterschied zwischen Kriegsverbrechen und Genozid? Kriegsverbrechen sind schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts – insbesondere der Genfer Konventionen. Konkret fallen beispielsweise der Einsatz verbotener Waffen wie Streubomben oder der Angriff auf geschützte Personen wie Zivilpersonen darunter. «Diese Verbrechen können auch durchaus schlimmer sein als ein Genozid», erklärt Diggelmann. Eine Hierarchie gibt es juristisch gesehen aber keine. Kriegsverbrechen und Genozid unterscheiden sich in erster Linie in der Struktur: «Bei Kriegsverbrechen geht es nur um die konkreten Handlungen, nicht um ein übergeordnetes Ziel wie die Vernichtung eines Volksteils. Das macht den Tatbestand der Kriegsverbrechen auch einfach besser handhabbar.» Eine Auflistung mit Kriegsverbrechen ist im Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) festgehalten.

Die drei internationalen Gerichte in Den Haag

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In der niederländischen Stadt Den Haag sind mehrere internationale Gerichte ansässig. Das sorgt gelegentlich für Verwirrung, denn die Namen ähneln sich sehr.

Internationaler Gerichtshof (IGH): Das ist das höchste Gericht der Vereinten Nationen mit Sitz im Haager Friedenspalast. Es soll Konflikte zwischen Staaten lösen. Seine Urteile sind bindend, eine Berufung ist nicht möglich. Doch es besitzt keine Machtmittel, um einen unterlegenen Staat zu zwingen, ein Urteil umzusetzen.

Internationaler Strafgerichtshof (ICC): Auch dieses Gericht hat seinen Sitz in Den Haag, ist aber unabhängig von der UNO. Das Weltstrafgericht verfolgt individuelle Verdächtige wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Aggressionskrieg und Völkermord. Dieses Gericht kann Haftbefehle erlassen. Das Weltstrafgericht wird nicht von allen Staaten anerkannt.

UNO-Kriegsverbrechertribunal: Das ist ein von der UNO eingerichtetes Sondergericht und handelt die restlichen Fälle ab zu Kriegsverbrechen in Ruanda und dem früheren Jugoslawien. Es hat ebenfalls seinen Sitz in Den Haag.

Wird der Begriff Genozid politisch missbraucht? Der Genozid-Vorwurf «passt extrem gut in einfache Narrative wie Befreiungsbewegungen ‹gegen die, die alle Verbrecher sind›», meint Diggelmann. «Ich denke, der Vorwurf lenkt den Blick von den konkreten Taten ab. Es ist besser, strikt bei den Fakten zu bleiben, die man wirklich nachweisen kann.» Völkermord klingt zudem nach dem Schlimmsten. «Deshalb versuchen die Konfliktparteien regelmässig, ihren Fall als Genozid zu labeln.» Dieses Label verschafft viel mediale Aufmerksamkeit. «Das hat Folgen, die wirklich hochproblematisch sind. Denn wenn dieses Label schliesslich nicht zutrifft, dann erscheinen die Verbrechen in der allgemeinen Wahrnehmung als etwas weniger schlimm», sagt der Völkerrechtsexperte. Also nicht Genozid, sondern in Anführungszeichen nur Kriegsverbrechen. «Das ist absurd.»

Echo der Zeit, 4.11.2023, 18 Uhr;

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