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Vereinte Nationen ohne Präsenz UNO-Gipfelwoche – blutleer und fruchtlos

Normalerweise ist New York in der UNO-Gipfelwoche der politische Nabel der Welt. Doch die Coronakrise reduzierte den Monsteranlass zu einem fünftägigen Videoabend, mit einer schier unendlichen Abfolge eingespielter Reden der Mächtigen. Damit fehlte nicht nur die Stimmung, sondern auch die Substanz.

Hat irgendjemand mitbekommen, dass diese Woche bei der UNO ein Digitalgipfel, ein Nachhaltigkeitsgipfel oder ein Impfstoffgipfel stattfanden? Wohl kaum. Wer Nachrichten konsumiert, dürfte bestenfalls vernommen haben, dass die UNO mit einem Jubiläumsgipfel ihren 75. Geburtstag feierte. Und allenfalls noch, was US-Präsident Donald Trump in New York äusserte sowie der Staats- oder Regierungschef seines oder ihres jeweiligen Landes.

Null Spektakel ohne Präsenz

Die UNO-Gipfelwoche beherrscht sonst die internationale Berichterstattung, wenn gegen 150 Staats- und Regierungschefs und in ihrem Tross zudem Heerscharen von Journalisten anreisen. Diesmal fand sie im Schatten der Schlagzeilen statt. Mangels physischer Präsenz der Mächtigen gab es null Spektakel: keine flammenden Appelle, keine langen Tiraden, keinen donnernden Applaus, keine empörten Zwischenrufe, keine demonstrativen Auszüge aus dem riesigen Saal der UNO-Generalversammlung.

All das muss man nicht bedauern. Hingegen braucht die UNO Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit für ihre Themen, ihre Anliegen, ihr Vorgehen. Sie braucht auch echte Debatten vor und hinter den Kulissen. Die UNO-Führung hoffte, vom Jubiläumsgipfel Schwung für einen Aufbruch mitzunehmen in diesen Zeiten, da sich die internationale Zusammenarbeit schwertut wie lange nicht mehr.

Politik ist ein Beziehungsgeschäft

Technische Verhandlungen oder Gipfeltreffen zu eng gefassten Themen funktionieren auch ohne physische Präsenz. Doch Politik ist ein Beziehungsgeschäft. Spitzenpolitiker müssen einander sehen, sich austauschen, streiten, Allianzen schmieden, Ideen lancieren, Kompromisse finden. All das passiert nicht, wenn sie bloss ein voraufgezeichnetes Video nach New York schicken.

Gewiss: Selbst ohne Corona, selbst in einer echten und nicht nur virtuellen UNO-Gipfelwoche, wäre es schwierig geworden. Die weltpolitischen Zeichen stehen auf Sturm. Egoismus und Populismus regieren. Solidarität ist ohnehin ein zu hoher Anspruch. Doch wenigstens zu länderübergreifender Zusammenarbeit aus Eigeninteresse müsste es reichen. Doch selbst dazu reicht es eben nicht. Und wenn Donald Trump ganz am Ende seiner Videoansprache sagt «Gott schütze die Vereinten Nationen», dann klingt das wie Hohn nach allem, was er davor zum Besten gab.

«Ein nicht bestandener Test»

Von einer Stärkung der UNO sprach ohnehin kaum jemand. Zu den wenigen gehörten Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga oder die deutsche Kanzlerin Angela Merkel – sie indes mit der völlig chancenlosen Forderung nach einer Reform des Sicherheitsrats mit neuen permanenten Mitgliedern. Selbst der sonst rhetorisch beschlagene UNO-Generalsekretär Antonio Guterres wirkte diesmal seltsam blutleer – wie die ganze Veranstaltung. So, als glaube er selbst nicht mehr daran, das Steuer herumreissen zu können.

Guterres' Schlüsselsatz zum Schlüsselthema der Stunde lautete: «Der Umgang mit der Pandemie ist ein Test für die internationale Zusammenarbeit. Ein Test, den wir im Wesentlichen nicht bestanden haben.»

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

Echo der Zeit, 25.09.2020, 18 Uhr

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