Ein Blick in die Geschichte zeigt: Sexuelle Gewalt in Kriegen ist kein neues Phänomen. So kam es zum Beispiel in den Kriegen in Bosnien und Herzegowina, in Ruanda oder Syrien zu systematischen Vergewaltigungen. Laut Leandra Bias, Expertin für Friedensforschung und für die Geschlechterperspektive, soll damit der Gegner erniedrigt werden.
SRF News: Wieso kommt es in Kriegen oft zu sexualisierter Gewalt?
Leandra Bias: Es besteht zwar nach wie vor die Annahme, dass es irgendetwas mit Lust oder einfach Gelegenheit zu tun hat. Doch das ist falsch. Es hängt in erster Linie mit Machtgefälle und Militarisierung zusammen.
Vergewaltigung im Krieg hängt in erster Linie mit Machtgefälle und Militarisierung zusammen.
Um Krieg überhaupt möglich zu machen, braucht es eine militarisierte Männlichkeit. Und diese existiert nur, wenn ein Gegenüber da ist. Dieses Gegenüber wird als verweiblicht und minderwertig dargestellt, als entmenschlichtes Wesen, gegenüber dem man legitimiert Gewalt ausführen kann. Entsprechend werden alle Menschen, die weiblich gelesen oder konnotiert sind, zu Zielscheiben.
Welche strukturellen Faktoren steuern dazu bei?
Einer von mehreren solchen Faktoren ist sicher eine patriarchale Gesellschaft, in der wir männlich konnotiertes Verhalten höher gewichten und den Feind in einem Krieg als verweiblicht und entmännlicht darstellen. Entsprechend ist sexualisierte Gewalt auch eine Art, dem Feind zu sagen: «Schaut her, wir vergewaltigen eure Frauen und dominieren euch!»
Vergewaltigungen sind eine Botschaft an den Feind.
Und es ist auch eine Botschaft an die Männer der feindlichen Gruppe, die lautet: «Ihr erfüllt eure traditionelle Rolle des Beschützers eurer Frauen nicht und entsprechend obsiegen wir.»
Sexualisierte Gewalt richtet sich nicht nur gegen Frauen. Warum?
Bei Männern ist die Logik die gleiche, einfach direkter. Bei sexualisierter Gewalt an Frauen ist es eine indirekte Botschaft. Gegenüber Männern ist die Botschaft hingegen: «Schaut her, die Beschützer der Nation werden komplett entwürdigt, indem wir sie vergewaltigen.»
Welche Rolle spielt die Organisationsstruktur einer Armee?
Eine zentrale. Wenn vom Kommando her wirklich klar kommuniziert würde, dass Vergewaltigungen ein totales Tabu sind, dann hätte das eine wichtige Signalwirkung. Das fehlt oft. Aber wir wissen auch, dass sexualisierte Gewalt befördert wird, wenn es keinen Zusammenhalt gibt innerhalb der Armee, weil sie dann durchaus auch die Rolle erfüllt von Gruppenbildung oder der Initiierung neuer Rekruten. Entsprechend kann man über die Struktur innerhalb der Armee zur Prävention beitragen.
Soldaten überwinden über die sexualisierte Gewalt ihren Frust.
Im Falle Russlands kennen wir auch die Praktik der Dedowschtschina – einer Mobbing-Kultur innerhalb der russischen Armee. Und wir befürchten, dass die sexualisierte Gewalt auch Ausdruck davon ist; von Frustration von Soldaten, die über die sexualisierte Gewalt diesen Frust überwinden.
Wie kann man die Verfolgung solcher Taten im Krieg sicherstellen?
Das ist tatsächlich eine grosse Herausforderung. Eine solche Vergewaltigung im Einzelfall ist per se ein Kriegsverbrechen. Das zu beweisen, ist unter Umständen ein bisschen einfacher.
Eine Vergewaltigung ist per se ein Kriegsverbrechen.
Aber wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, muss man nachweisen können, dass das sowohl systematisch wie auch weitverbreitet war. Das ist unglaublich schwierig, deshalb kommt es selten zu Verurteilungen. Aber gleichzeitig ist es international verankert, dass es ein Verbrechen ist, und das ist an sich ein Erfolg. Wir müssen einfach weiter daran arbeiten, dass solche Fälle noch besser verfolgt werden.
Das Gespräch führte Zoe Geissler.